Ruhe finden: Zur Gesangssession im Kloster

Eine Woche in dem bayerischen Kloster Ottobeuren. "Eine Woche zu schweigen habe ich mir nicht zugetraut und deshalb das Seminar 'Singen mit Beppo' gebucht. Plötzlich habe ich das Gefühl, Zeit zu haben"

Fassade der spätbarocken Basilika in Ottobeuren Bild: Bayern Tourismus

Als der Bus über eine Hügelkuppe fährt und ich zum ersten Mal auf das Kloster Ottobeuren blicke, erschrecke ich fast: Die Basilika ist gigantisch, der dahinter liegende Gebäudeblock wirkt wie eine Festung. Der Mönch an der Pforte reicht mir ein Schlüsselbund; ich kann zu jeder Tages- und Nachtzeit kommen und gehen. Als Hausgast wohne ich in dem Klosterteil, der im 18. Jahrhundert für die Habsburgerkaiser errichtet wurde - im fast baugleichen Trakt nebenan befindet sich die Klausur der Mönche. Mein Zimmer heißt "St. Gertrud". Jenseits des schlichten Holzbetts an der Wand ein gemarterter Jesus von beachtlichem Ausmaß, daneben drei Landschaftsbilder in Öl. Ich habe ein eigenes Badezimmer, zwei Stühle und einen Tisch. Durch das Fenster sieht man zwei Brunnen in einem riesigen Innenhof.

Vor dem Abendessen höre ich mir das Stundengebet der Mönche in der Basilika an. Dort strecken mir hunderte von Putten ihre niedlichen Popos entgegen, in einem Glassarg sitzt ein opulent bekleidetes Skelett. Ein Glöckchen verkündet die Ankunft der Mönche. Zu zweit treten sie ein, knicksen vor dem Altar und sammeln sich in den linken Bänken des Altarraums. Gut zwanzig Minuten dauert ihr monotoner Singsang - dann verschwinden sie wieder.

Eine Woche lang zu schweigen habe ich mir nicht zugetraut und deshalb ein Seminar belegt: "Singen mit Beppo". Beim Abendessen treffe ich meine Kursgenossen zum ersten Mal. Fünfzehn Frauen und zwei Männer - alle zwischen 40 und 60 Jahre alt. Ich fühle mich unsicher. Ob das alles tiefkatholische Menschen sind, die gleich ein Tischgebet sprechen und dann voll Ehrfurcht die Gaben Gottes zu sich nehmen werden? "Wir duzen uns hier", sagt eine Frau in den Fünfzigern, die schon zum zweiten Mal dabei ist. Nach und nach schwindet die Befangenheit.

Tiefe Stille in der Nacht: Die Ohren können sich weit öffnen und lauschend genießen. Auf meinem Nachttisch liegt eine Bibel in katholisch-evangelischer Einheitsübersetzung. Ich lasse meine Lektüre im Koffer und beginne auf der ersten Seite. Gott hat Sonne, Mond und Sterne an den Himmel geheftet und die Menschen auf zwei unterschiedliche Weisen erschaffen, später zeugen sie dann 130-jährige Kinder und werden über 700 Jahre alt. Interessant, was die Menschen damals so geschrieben haben. Bei Noah mache ich erst einmal das Licht aus.

Unsere erste Gesangssession findet am nächsten Morgen im Innenhof statt: Wir rekeln und strecken uns und schicken laute Töne in den Himmel. Der weißgelockte Beppo wirkt alterslos. Der Seminarleiter gibt öfter Gesangskurse im Kloster. Kindlich begeisterte Augen blicken aus seinem zerfurchten und dennoch jungen Gesicht. Sein umwerfend tiefer Bass ermuntert und ermutigt uns - warm, humorvoll und voll Gelassenheit. Mal hopst er ausgelassen herum, mal singt er voll Inbrunst. Nichts an ihm wirkt gekünstelt.

Die weiten, leeren Räume geben unseren Stimmen ein erstaunliches Volumen. Wir lernen afrikanische Gospels, die Beppo und seine Frau Gisela im Kongo, in Südafrika, Ghana, Liberia und noch einigen anderen Ländern gesammelt haben. Rhythmische Fußbewegungen helfen uns, den Takt zu halten. Schon nach zweieinhalb Stunden beherrschen wir eine Reihe mehrstimmiger Lieder. Begleitet von Beppos Gitarre, ziehen wir "imela-imela -imela - ogaga" -singend durch die langen Gänge zum Mittagessen, wo aus geheimnisvoller Tiefe per Aufzug unser viergängiges Menü eintrifft.

Jeden Nachmittag haben wir vier Stunden Pause. Ich stakse wie ein Storch durch das nahe Kneipptretbad, wandere durch den Wald und beobachte Schnecken, die auf einem Grashaufen hinter der Klostermauer unterwegs sind. Ich habe Zeit.

An einem Tag macht Frater Franziskus eine Klosterführung mit uns. Wir erfahren, dass Benediktiner fast so stationär leben wie Bäume und dass die 21 Brüder das Kloster so selten wie möglich verlassen; dass die steigenden Energiepreise auch den Mönchen zu schaffen machen und er sein Habit ablegt, wenn er die Obstbäume beschneidet. Während er erzählt, sitzt Frater Franziskus auf einem Tisch, schlenkert mit den Füßen, die in modernen Outdoorsandalen stecken, lacht immer wieder und schaut uns unverklemmt an. Wenn er wollte, könnte er so manches Frauenherz erobern.

Aber er hat sich anders entschieden. Seine Liebe zu Gott müsse täglich intensiv gepflegt werden - so wie eine menschliche Liebesbeziehung auch -, erklärt der bärtige Mann mit der schwarzen Kutte. Er beschreibt seinen Alltag, den langen Weg eines Mönchs bis zum endgültigen Gelübde und den Andrang von Hartz-IV-Empfängern, die glauben, im Kloster eine Bleibe fürs Alter finden zu können. Und als wir schließlich im Vorraum der Basilika stehen, da gesteht Frater Franziskus, dass ihm romanische und gotische Kirchen viel besser gefallen als diese opulente Basilika hier in Ottobeuren. "Dass der liebe Gott so was für mich vorgesehen hat, das hätte ich früher auch nie gedacht", kichert er.

Während der Stundengebete dürfen wir den Mönchen gegenüber im Chorgestühl Platz nehmen. "Seid nüchtern und wachsam. Euer Widersacher, der Teufel, geht wie ein brüllender Löwe umher und sucht, wen er verschlingen kann", sagt einer der Pater - so wie jede Woche dienstags um diese Uhrzeit. Ein sakrales Gefühl mag sich bei mir nicht einstellen, eher ein intellektueller Widerstand. So schaue ich mir die Decke an, wo über mir fünf muskulöse Männerkörper mit gehörnten Köpfen aus den Wolken fallen.

Dagegen kann ich bei den Gospels selbst manche deutsche Übersetzung ohne Abgrenzungsbedürfnisse mitschmettern. Wir singen von Gottvater und Mutter Erde - Jubel-, Dankes-, Trauer- und Trostlieder. Die Melodien sind mitreißend und harmonisch, sinnlich und oft ergreifend. Wir wiegen uns gemeinsam im Takt, wir tanzen fast und erzeugen zusammen einen Klangkörper. Immer wieder stehen wir auch in der Basilika unter der Kuppel im Kreis, pendeln hin und her. Am Anfang hatte uns der riesige Raum den Mut genommen. Aber Beppo vertreibt die Ehrfurcht; kein Zweifel, er ist ein tiefgläubiger Mensch, aber nichts an ihm ist moralisch-missionierend.

Jeden Tag gehe ich zu dem Grashaufen und beobachte die Schnecken. In den Klostergängen nehme ich das Licht wahr, das durch die Fensterbögen fällt und je nach Tageszeit steilere oder flachere Parallelogramme auf den hellen Marmorboden zeichnet. Die Architektur beeinflusst meine Bewegung: Fast unmöglich, hier zu schlendern oder zu schlurfen. Ich gehe aufrecht und voll innerer Ruhe, höre das gleichmäßige Geräusch meiner Schuhsohlen - oder ich singe.

Um fünf Uhr nachmittags treffen wir uns wieder - Gospels bis zum Abendessen. Während der Mahlzeiten reden wir über Gott und die Welt und kaum über unseren Alltag. Jutta* erinnert sich an ihre Klosterschule und muss in den ersten Tagen erst mal herausfinden, ob das alles hier sie trotz der Weite der Räume nicht beklemmt. Gabriele* hat den Urlaub von der Familie zum Geburtstag geschenkt bekommen und genießt die stille Zeit ohne Kindergeplärre. Friederike* hat einfach Lust, mal wieder eine Woche lang in schöner Umgebung zu singen. Manche von uns sind tiefgläubig, andere aus der Kirche ausgetreten oder zweifelnd. Wir kommen aus der ganzen Republik, sind schick gekleidet oder Birkenstockträger, solo, liiert, verheiratet oder geschieden. Es ist ein angenehmes Miteinander ohne Ansprüche und Gruppendynamik - jeder ist willkommen und kann für sich sein, wenn er es braucht.

Abends treffen wir uns in einer kleinen Kapelle oder lassen uns für eine Weile in der Basilika einschließen. Einmal haben wir sogar einen Auftritt - eine Caritasstation wird eingeweiht. Nicht lange, und Beppo hat es geschafft: Der ganze Saal singt mit. Oft setze ich mich in meinem Zimmer ans Fenster. Mal ist das gegenüber liegende Dach nass, und die Ziegel glänzen, mal ist der Himmel blau, und Schatten zeichnen sich auf der Fassade ab. Gelegentlich plätschern die beiden Brunnen, der Regen rauscht. Ich fühle mich ganz in der Gegenwart, wach. Was sonst wichtig für mich ist, ist jetzt unendlich weit weg.

Nach einer Woche breche ich wieder auf. Mein Gepäck ist schwer. Nicht nur mehrere Gläser Honig schleppe ich fort, sondern auch ein Buch aus dem Klosterladen, in dem Naturwissenschaftler und Theologen über den Urknall streiten. Noch Tage singe ich "imela-imela" oder "ayé - ullulami i lé", wenn ich unter der Dusche stehe oder draußen unterwegs bin.

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