die wahrheit: Das Kelbraer Grassabstechen

Tage des geheimnisvollen Brauchtums: Erst geschunden, dann drei Minuten ausgebuht.

Von Pferden gezogen und in Festtracht bringen die Burschen und Mädchen den Grassbaum ins Dorf. Bild: ap

"Dei Grass is dout!" Dreimal wurde dies ausgerufen, wonach unbeschreiblicher Jubel losbrach. Die vollzählig versammelten Kelbraer - 4.398 nach letzter Zählung - freuten sich wie ausgelassener Speck. Und auch wir brüllten kräftig mit, erhitzt vom Ockershäuser Doppelkorn.

Dicke Schneeknüppel waren die Pappeln, Fallgruben die zugeschneiten Bachschluchten, in die beim rituellen Umzug so mancher Unachtsame hinabstürzte, metertief und brüllend beim Aufschlag auf hartem Eis, unterm Grölen der anderen. Herrje, was haben die Versammelten nicht alles mit dem Grass angestellt - dicke Hinterwäldler, unförmige Kugelgestalten auf den ersten Blick. Doch Januar wars, und am ersten Vollmondtag im Jahr bitterkalt. Alle hatten sich alles übergezogen, was irgendwie greifbar gewesen war. So hatte sich bei den Stürzen in die Bachschluchten auch keiner ein Leids getan.

Erst haben sie den Grass waidwund gestochen, dann mit Dreschflegeln erschlagen, gerädert, gevierteilt, wieder zusammengenäht, mit roter Farbe übergossen, mit blauer Farbe übergossen, schließlich mit Ocker übergossen: "Das ist ganz entscheidend", erklärte uns der Schultes, eine nach Vorlagen aus dem dreizehnten Jahrhundert farbenfroh eingekleidete Gestalt. Kelbra in der Ockermark war das Zentrum der Ockermärkischen Farbenproduktion. "Ocker war er zu Beginn und ocker bleibt er fürderhin!", sagte der Schultes erst leise zu uns, dann schrie er es heraus. Die Menge johlte.

Nun sind die Ockermärker keineswegs der Kultur abgeneigt. Das Kelbraer Grassabstechen ist nicht etwa ein diffus dichter- und denkerfeindlicher Brauch wie das Rütlinger Habermastreiben, das Kälberstädter Enzensbergersprengen oder der Hinzbächer Grünbein-Bähbäh, sondern es ist ein Auskehrbrauch, mit dem der vor Urzeiten errungene Sieg über die zutiefst verhasste Landplage des Grass immer und immer wieder in Erinnerung gebracht und so fürs neue Jahr in Anspruch genommen wird.

Der Grass ist eine mit Stroh ausgestopfte übermannsgroße Gestalt in einem Anzug aus ockerfarbenem Flachsleinen. Eine Trommel hängt ihm vorm Bauch, und ein dicker schwarzer Schnauzbart blüht unter seiner Rübennase. Er war, will man den Legenden Glauben schenken, einst ein übler Landstörzer, der sich im Bauernkrieg selbst zum Anführer aufgespielt, dann aber alle Öckerer, die ihm folgten, darunter sehr viele aus Kelbra, ins Verderben geritten hat. Eine alte Chronik berichtet, wie er einstmals, nach einem Bauerntreffen in Teltge, grundlos einen Kelbraer erschlug. Da hat der Hass seinen Grund. Später, so will man erfahren haben, stellte sich heraus, dass er gar Offizier eines fürstlichen Heeres war.

Freigelassenen Untieren gleich gebärdeten sie sich und brachen in den Schlämm-Krug, die einzige örtliche Wirtschaft, ein, als gehörten sie zu Wotans wildem Heer. Die Krüge prasselten beim Aneinanderstoßen. "Hie Kelbra, wer da?", schrien mehrere hundert Trinker. Keiner, es sei denn, er wäre aus Kelbra, hätte es wohl da noch gewagt, die Wirtsstube zu betreten. Wir versuchten uns krampfhaft, noch während wir unter den Kelbraern saßen und bereits die verheerende Wirkung des Ockershäusers spürten, zu erinnern, was dem Grass alles weiter geschehen war.

Überm Feuer auf einem Rost vorsichtig getrocknet hatten sie den ockerfarbenen Grass zunächst, in der Folge auf einer Pritsche durchs Dorf gezogen, so dass seine Stiefel lustig übers verschlammte Pflaster gesprungen waren. Am Grassbaum - einer siebenundvierzig Meter hohen Fichtenholzstange mitten auf dem Marktplatz von Kelbra - war der leblos herumschlackernde und entseelt schon schlotternde Grass dann hochgezogen und drei Minuten gehörig ausgebuht worden. Die Höhe der Stange hatte früher auch eine Bedeutung gehabt, aber keiner wusste doch mehr, welche.

Wir hatten Mühe, uns des weiter Erlebten auch nur dunkel zu entsinnen. Der Doppelkorn ... War da nicht der Grass noch immer auf dieser Stange gewesen? Richtig, dann haben sie sich erst geprügelt, bis die beiden Stärksten übrig geblieben waren. Die haben geknobelt. Mit brutalen Axthieben hat der Sieger die Stange mit dem Grass umgehauen. Grässlich schlug der Grassbaum zwischen die rituell zur Seite springenden Kelbraer. Die zerfetzten schließlich den zerschmetterten Grass und warfen ihn in ein Feuer. Dabei sangen sie, im Kreis darumtanzend: "Dei Grass is dout! Dei Grass is dout! Dei Grass is dout!"

Der Schultes verriet uns mit schwerfälliger Zunge: "In folgendem Faktum nun liegt die Notwendigkeit der jährlichen Wiederholung des Brauches begründet: Selbst bei den Kelbraern, die ja weitaus trinkfester sind als alle anderen Menschen auf der Welt, da sie mit Ockershäuser Doppelkorn gesäugt wurden, ist die Erinnerung an den Grass nach einem Jahr vollkommen erloschen. Da also die Köpfe der Kelbraer vom Ockershäuser Doppelkorn schon fast völlig ausgezehrt sind, muss der Grass auf so komplizierte und für Außenstehende kaum nachzuvollziehende Weise erneut abgestochen werden."

Diese Logik ... nee: Lookigg ... hihihi! ... will uns einleuchten. Durchaus, gelt ... Hier verlieren sich unsere Notizen in unentwirrbarem Gekritzel auf den Bierfilzen. Doch das Wesentliche ist - so glauben wir - durchaus deutlich geworden.

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kari

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