Montagsinterview: "Ein Abend als Gesamtkunstwerk"

Heiko Michels steht im Perlin hinterm Tresen und ist Pressesprecher der vier Berliner Weinereien. Dort zahlt jeder Gast, was er für angemessen hält. Feste Preise gibt es nicht.

taz: Herr Michels, die Weinereien gehören Ihnen nicht, aber trotzdem sind Sie mein Gesprächspartner. Warum?

Heiko Michels wurde am 20. Juni 1977 in Kiel geboren, wo er auch aufwuchs.

Nach dem Abi 1997 ging er nach Berlin, um an der FU Theater- und Literaturwissenschaft zu studieren. Berufsziel: Theaterregisseur.

Über die Inszenierung von "Weinprobe - ein Satyrspiel" geriet er 2003 an die Weinereien - und ist dort in guter Gesellschaft: Viele Kollegen sind Künstler, die sich was dazuverdienen müssen.

Am 11. März feiert sein "kulinarisch-lukullisches Theaterexperiment mit Wein und Menschen" im Perlin Premiere, wo er normalerweise immer donnerstags hinter der Bar steht.

Michels trinkt gern Riesling, aber auch mal ein Bier. Er würde ein Jever immer einem Becks vorziehen.

Die Adressen der vier Weinereien: Kollwitzstraße 41 ("Loch"), Fehrbelliner Straße 57 ("Forum"), Zionskirchstraße 40 ("Frarosa") und Griebenowstraße 5 ("Perlin").

"Das mit dem Schaum hab ich nicht so drauf", entschuldigt sich Heiko Michels, während er mit der Milchdüse der Kaffeemaschine im Perlin kämpft. Warum auch? Er trinkt Espresso - gleich drei während des Interviews. Und außerdem erwarten seine Gäste von ihm nur, dass er sich mit Wein auskennt. Das Perlin in der Griebenowstraße am Zionskirchplatz ist eine von vier "Weinereien" in Prenzlauer Berg und Mitte, Michels steht dort hinterm Tresen und ist auch Pressesprecher der Weinbars, in denen jeder Gast zahlt, was er für angemessen hält. Feste Preise gibt es nicht. Während des Interviews bietet der Weißweintrinker dem Gast ein Gläschen an. Michels verzichtet. Im Perlin ist es am Abend vorher spät geworden

Heiko Michels: Meine beiden Chefs sind nicht so die Typen, die gern Interviews geben. Eine Kollegin von dir - ich sag jetzt einfach mal du - hat das schon mal am eigenen Leib erfahren müssen, als sie nach zwei Fragen rausgeschmissen wurde. Deswegen kümmere ich mich um die Kontakte nach außen. Jürgen, einer der Chefs, ist zum Beispiel dafür zuständig, die leeren Flaschen wegzuschmeißen. Und wenn der Chef das Leergut entsorgt, ist klar, dass man das Wort Hierarchie vergessen kann. Wir arbeiten zusammen und ergänzen uns einfach gut. Es gibt kein Führungsteam, es gibt überhaupt keine Führung. Das kann auch gerne in der Zeitung stehen.

Euer Konzept ist mindestens genauso ungewöhnlich. Was zeichnet es aus?

Dass es kein Konzept ist. Es ist irgendwie passiert. Die Weinereien leben von den Menschen, die hier arbeiten, ihrer Energie, ihrer Lust zu spielen, zu experimentieren, einen Raum zu gestalten. Die Arbeit hier stillt ihr kulturelles Verlangen. Und genau das macht Berlin sexy. Berlin ist nicht sexy wegen der Veranstaltungen, auf die Herr Wowereit so geht. Natürlich ist es auch nicht unwichtig, dass wir keine festen Preise haben. Wir haben flüssige Preise, weil wir auch flüssigen Wein haben.

Die Band Radiohead hat mit ihrem aktuellen Album "In Rainbows" etwas ganz Ähnliches versucht: Jeder konnte für den Download so viel zahlen, wie er für angemessen hielt. Wie viel das durchschnittlich war, das hat die Band selbst nie verraten. Warum eigentlich nicht? Was glaubst du?

In dem Moment, in dem sie sagen würden, was die Leute durchschnittlich zahlen, würden sie sich ja ihr eigenes Spiel verderben. Dann hätten die Leute einen schnöden Betrag als Richtschnur. Und würden genauso viel oder ein bisschen weniger zahlen. Deswegen halte ich mich auch immer bedeckt, wenn mich jemand fragt, wie viel unseren Gästen ein Glas Wein im Durchschnitt wert ist.

Und: wie viel?

Sorry, da bin ich wie Radiohead und verrate nichts.

Es gibt die Vermutung, dass Radiohead vor allem schweigen, weil die Zahlen zu deprimierend sind, um sie zu veröffentlichen.

Keine Ahnung, ob das im virtuellen Raum funktioniert. Wir sind hier ziemlich live. Das ist ein ganz großer Unterschied.

Ihr seid also zufrieden?

Grundsätzlich schon. Es gibt gute Abende, an denen ich mich darüber freue, wie viel Geld im Glas ist, und es gibt schlechte Abende, an denen ich mich darüber ärgere, dass manchen Leuten das Glas Wein nur 1 Euro wert ist. Wenn ich das mitkriege, sage ich auch: "Das ist vielleicht nicht der Laden, in dem du Stammgast werden solltest." Wir haben Bock auf einen lustigen Abend mit Gästen, denen wir gerne einen im Vergleich zu anderen Kneipen ungewöhnlich guten Wein offerieren. Wenn sie allerdings schlecht bezahlen, müssen wir auch schlechteren Wein anbieten.

Was kosten eure Weine im Einkauf?

Das ist sehr unterschiedlich.

In welcher Preisspanne liegen sie?

Da stehen nur Weine, die gut schmecken.

Und wie teuer sind die?

Ach, das ist eine langweilige Frage.

Na gut. Und was erwartet ihr von den Gästen? Geht eure Vorstellung in Richtung der ortsüblichen Kneipenpreise, oder findet ihr es auch okay, wenn jemand mal weniger zahlt?

Wenn 20-Jährige 2 Euro für ein Glas zahlen, ist das was anderes, als wenn das jemand macht, der schon richtig Geld verdient. Und außerdem sollte man einen Abend bei uns als Gesamtkunstwerk ansehen. Wenn ich einem Gast erst mal fünf Minuten was über die Weine erzähle und ihm dann noch ein paar Oliven dazugebe, erwarte ich mehr als an einem total stressigen Abend in einem überfüllten Laden - was aber auch nicht heißt, dass 1 Euro unter diesen Umständen okay wäre.

"Erfolgreich gelebten Marxismus" hat der Tagesspiegel euch attestiert, weil bei euch jeder nach seinen Bedürfnissen trinkt und nach seinen Möglichkeiten zahlt.

Ich finde den Marxismus immer noch eine spannende Utopie, aber mit dem Artikel war ich unzufrieden. Mal abgesehen davon, dass im realen Sozialismus der Wein nicht besonders gut schmeckte, ist das einfach nicht die Grundthese unserer Läden. Wir versuchen, den Leuten einen guten Abend zu machen - und erwarten, dass sie den auch gut bezahlen.

Du stehst ja auch selbst in den Weinereien hinter der Theke. Was unterscheidet deine Arbeit hier von einem normalen Kneipenjob?

Dadurch, dass wir keine Preise haben, kann ich nicht so passiv sein wie in der normalen Gastronomie. Diese Vitalität des Denkens beim Arbeiten befriedigt mich aber auch viel mehr. Wenn ich irgendeinen Merlot auf die Karte schreibe und einen Preis dahinter, geht die Kommunikation mit dem Gast nur über das Produkt. Wenn ich ihn jedoch ermutige, die Weine vorher zu probieren und mal zu gucken, was für einen Körper sie haben, dann geht die Kommunikation zwar auch über das Produkt - aber über dessen Sinnlichkeit. Wir können uns mit unseren Weinen identifizieren und müssen deswegen keine Verkaufsmaske aufsetzen. Wenn ich hier arbeite, möchte ich auch selbst einen schönen Abend haben. Und das merken die Leute.

Was meinst du mit Verkaufsmaske?

Von Marx gibt es den Begriff der "ökonomischen Charaktermaske". Du stehst vor einem Geschäft und siehst im Schaufenster ein Produkt. Plötzlich steht dahinter eine Frau. Sie lächelt dich an und sieht dabei genauso künstlich aus wie das Produkt, das sie verkaufen möchte. Horror.

Aber letztlich geht es doch auch bei euch darum, eine Ware zu verkaufen, und nicht nur darum, nette Leute für gute Weine zu begeistern.

Klar wollen wir hier Geld verdienen. Wir sind doch nicht bescheuert. Aber Geld verdienen kann verdammt viel Spaß machen. Erst recht, wenn auf dem Tresen ein Glas steht, in das die Leute Geld schmeißen, wenn sie gehen, und du nie genau weißt, wie viel drin ist. Dieses Bezahlritual ist für mich viel spannender, als einfach zu kassieren - manche Gäste überfordert es allerdings, und zwar diejenigen, die die Geiz-ist-geil-Mentalität so sehr verinnerlicht haben, dass sie versuchen, überall möglichst billig rauszukommen. Das führt manchmal zu Zornausbrüchen aus einer existenziellen Verunsicherung heraus.

Wie äußert sich das?

Kurz vor Weihnachten hatte ich eine Geburtstagsfeier mit 15 20-Jährigen in der Bar. Das Geburtstagskind selbst hat mich vorher dreimal angerufen, dann zweimal die Mutter, die mich bat, eine Torte zu organisieren. Nachdem die vier Stunden hier gesessen und getrunken hatten, wie 20-Jährige halt so trinken, wollte die Mutter uns 70 Euro geben. Es ist ganz klar, dass das nicht angemessen ist. Als ich ihr das gesagt habe, schrie sie den Laden zusammen und forderte eine Rechnung - mit Steuernummer. Das war ihr ganz wichtig. Sie wollte etwas in der Hand haben.

Wir sind eben so sozialisiert, dass eine gewisse Leistung einen bestimmten Preis hat.

Stimmt. Deswegen fragt jeden Abend jemand, wie viel man ins Glas tun soll. Es ist also auch eine Gefahr, in die Weinerei zu gehen - und eine Verantwortung. Du musst das, was sonst die Getränkekarte für dich entscheidet, selbst machen.

Wie reagieren die Leute normalerweise, wenn du ihnen sagst, dass du ihren Obolus nicht angemessen findest?

Es gibt diejenigen, die sich ertappt fühlen, und diejenigen, die darauf beharren, dass wir feste Preise nehmen müssten, wenn wir bestimmte Beträge erwarten.

Sprecht ihr Hausverbote aus?

Selbstverständlich.

Wie oft?

In unserem großen Laden einmal am Abend. Mindestens.

Das ist ziemlich viel, oder?

Ja. Das bringt unsere Form der Gastronomie leider mit sich. Du musst mit den Gästen zusammenarbeiten. Von denen, die 5 Euro oder gar nichts ins Glas werfen, obwohl sie kaum noch gehen können, musst du dich trennen.

Warum sind die Weinereien so beliebt?

In einer Zeit, in der sich unser Leben immer mehr virtualisiert, gibt es eine neue Lust auf Live-Momente, auf Sinnlichkeit und Überschwang. Und Wein ist dafür das ideale Medium. Mit Bier würde es nicht funktionieren. Und das sage ich als Kieler!

Sind Flatrate-Partys und Komasaufen die dunkle Seite dieser Sehnsucht?

Solche Partys erfüllen ein Bedürfnis nach Bewusstlosigkeit, das die Veranstalter als Marktlücke entdeckt haben. Neu ist das aber nicht, auch wenn die Medien uns das glauben machen wollen. Wir haben uns mit 17 auch weggeknallt wie nichts.

Allerdings nicht auf Flatrate-Partys.

Nein. Für mich war es als Jugendlicher sehr wichtig, mein Bier auf der Straße zu trinken, an die Tankstelle zu gehen, um da Leute zu treffen. Das ist was anderes, als in eine Bar zu gehen, 20 Euro zu bezahlen und irgendwann umzufallen. Du führst andere Gespräche, du suchst was. Das war Surrealismus, ein Gefühl von Avantgarde.

Du hast dich als Avantgarde gefühlt, weil du an der Tankstelle gesoffen hast?

Die Frage ist: Was suchst du mit 17? Saufen und umfallen ist ja nicht das eigentliche Ziel. Du möchtest andere Formen finden, dich selbst zu verstehen, deine Generation zu verstehen, dich auszudrücken. Es gibt diese surrealistischen Experimente von André Breton, bei denen er und seine Freunde sich in den Zug gesetzt haben, um in den Vorstädten auf die Suche nach neuen Erfahrungen zu gehen. Dort haben sie sich dann unbedeutende Sachen angeguckt. Wenn du mit sechs Leuten nachts durch die Straßen ziehst, wirkt ja nicht nur der Alkoholrausch, sondern auch der Gruppenrausch. Du gehst plötzlich in eine Kneipe, in die du sonst nie gehen würdest, weil sie gerade da ist oder das Bier besonders preiswert ist. Ich kann den Jugendlichen nur raten: Geht nicht in die Weinereien, kauft Bier, zieht durch die Straßen und macht Unfug!

Ein nicht ganz uneigennütziger Appell.

15-Jährige auf Sauftour sind einfach nicht unsere Klientel.

Spanische Erasmusstudenten ziehen auch mit Anfang 20 noch ganz ordentlich was weg.

Wer nur einen Ort sucht, um sich mit 20 Leuten billig abzuschießen, ist in den Weinereien falsch. Alle anderen sind herzlich willkommen. Das gilt auch für Erasmusstudenten - ganz egal woher sie kommen.

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