Zivilcourage im Mehrfamilienhaus: Sie kreischt. Er schreit. Es rummst. Ich warte

Beim nächsten Mal, beim nächsten Mal wirklich, dachte ich. Einfach nur klingeln

Manchmal frage ich mich, wie das wäre, wenn irgendwann Kollegen bei mir vor der Tür stehen, ein Fernsehteam vielleicht, und wissen wollen, ob ich denn nie etwas gehört habe. Unten sei eine Frau erschlagen worden.

Ich höre es ja ständig.

Sie kreischt, er schreit, es rummst und kracht. Sie flieht, dumpfe Schritte, er hinterher. Sie kreischt noch lauter. Ich sitze darüber und zucke bei jedem Knall ein bisschen zusammen. Und jedes Mal, wenn sie noch lauter schreien als sonst schon immer, denke ich, dass man jetzt wirklich etwas tun sollte, bevor es zu spät ist. Dass ich etwas tun sollte. Vielleicht mal runtergehen. Vielleicht mal klingeln. Vielleicht würde das ja irgendwie deeskalierend wirken - so ein Signal aus der Außenwelt. Vielleicht würden sie kurz innehalten. Ich habe es noch nie getan.

Wenn tatsächlich mal etwas passiert ist, sagen die Leute ja oft, dass sie nie etwas gehört haben, dass das ganz unauffällige Nachbarn waren, nett, freundlich, ruhig. Was sollen sie auch sonst sagen? Etwa: "Ja, klar, da hat es permanent gerummst und gekracht und zwischendurch diese seltsamen Schreie. Ich habe das auch immer gehört, aber ich dachte, die spielen Fangen und hüpfen dabei über die Couch." Das Komische daran ist: So könnte es auch sein, theoretisch. Erst vor ein paar Tagen hat irgendwo in Deutschland eine Frau ihren Mann zerkleinert und in der Toilette heruntergespült. Die Frau hatte ehrliche Nachbarn. Es sei erst laut gewesen, sagten die, und anschließend ging ständig die Spülung. Muss man da nachfragen? Was fragt man da? Alles in Ordnung bei Ihnen? Und wenn sie "ja" sagt?

Ich empfange hier oben nur den Ton, nicht das Bild. Der Ton könnte trügen und sie machen eine Schreitherapie nach Ibrahima Diallo, um ihre überschüssigen Energien loszuwerden und ihre innere Ruhe wiederzufinden. Es klingt nicht unbedingt so, aber wer weiß das schon genau. Manchmal spielt bei ihnen jemand auf einem Didgeridoo, das ist so ein vibrierendes australisches Blasinstrument. Die Schreitherapie hat indianische Wurzeln, glaube ich, wenn auch nicht unbedingt in Australien. Es ist auch egal: Selbst dann würde es nicht schaden, einfach kurz zu klingeln. Damit hätte sich das geklärt.

Neulich hat mein Freund Marley bei mir auf dem Boden übernachtet. "Die haben gerade gepoppt", teilte er mir am Morgen mit. Gar kein schlechtes Zeichen, dachte ich. Ich hatte die Wohngegend bisher ja für weitgehend sexfrei gehalten. Vielleicht habe ich ein völlig falsches Bild von der Lage, weil ich zu wenig Zeit auf dem Boden verbringe. "Sex ist doch etwas Positives. Das hat im weitesten Sinne mit Liebe zu tun. Jetzt wird das bestimmt alles besser", sagte ich. Ein paar Tage später hat sie so laut geschrien, dass ich wirklich schon an meiner Wohnungstür stand. Er hatte wohl irgendetwas kaputt gemacht und brüllte irgendwann nur noch: "Ich möchte, dass du jetzt gehst." Immer wieder. Sie jaulte danach auf, jedes Mal. Dann wieder Rennen, Rumpeln, Kreischen. Als ich mir die Schuhe anzog, wurde es etwas leiser. Sie schluchzte nur noch. Sie schluchzte dann zwei Stunden lang. Sie wimmerte wie ein Hund, wirklich genau so. Dazu spielte er sein elektronische Klopfmusik.

Später hörte ich Stimmen auf dem Flur. Ich machte die Tür einen Spalt weit auf. Sie lag wohl unten vor der Wohnung und er hat versucht, sie nach drinnen zu ziehen. "Lass das, du machst meine Kleider ganz dreckig", hat sie gesagt. Irgend so etwas. Beim nächsten Mal, beim nächsten Mal wirklich, dachte ich. Einfach nur klingeln.

Vor kurzem habe ich sie mal im Aufzug getroffen. Glaube ich. Sie sah mitgenommen aus. Ich konnte irgendwie nicht grüßen, es ging nicht.

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