Reaktion auf Israels Gaza-Blockade: Palästinenser überrennen Grenze

Hunderttausende Bewohner des Gazastreifens stürmen die Grenze nach Ägypten. Sicherheitskräfte griffen nicht ein, damit die Palästinenser sich mit Lebensmitteln eindecken konnten.

Ungehindert passieren Menschen aus dem Gazastreifen das, was einst die Sperranlage war. Bild: dpa

Die zwei jungen Sicherheitsbeamten der Hamas haben Mühe, die Leute vom Bus zu wegzudrängen, der gerade in Richtung Rafah an der ägyptischen Grenze aufbricht. "Mach die Türen zu", ruft einer der beiden dem Fahrer zu, doch das ist leichter gesagt, als getan. An beiden Eingängen klammern sich mehrere Männer fest, um die Fahrt nicht zu verpassen. "Da sind mindestens 150 Leute drin", schätzt der Sicherheitsmann. Sitzplätze gibt es nur für 50. "Am liebsten würde ich selbst mitfahren", sagt er, "leider bin ich im Dienst."

Seit Mittwochmorgen sind nach UN-Angaben 350.000, nach palästinensischen Angaben bis zu 500.000 Menschen auf die andere Seite der Grenze gekommen. Maskierte Männer hatten 17 Löcher in die Grenzmauer gesprengt.

Offiziell hat die Hamas keine Verantwortung übernommen, doch allen ist klar, dass es nur die neuen Herrscher im Gazastreifen gewesen sein können. Anderen ist allein der Besitz von Sprengstoff streng untersagt.

"Jetzt geht es erst einmal um Nahrungsmittel und Medikamente", ruft ein junger Mann mit Sportmütze und Vollbart aus einem Sammeltaxi, das auch schon mehr als voll besetzt ist. "Später holen wir mehr." Er gibt der Hamas die Schuld an der seit Monaten andauernden Blockade und der Not im Gazastreifen. "Klar, wir sind alle sauer auf die Hamas. Die Leute können das nicht mehr aushalten", schimpft er und drängt den Fahrer, endlich loszufahren. Für den ist es vorläufig die letzte Fahrt nach Süden, dann sind seine Benzinvorräte aufgebraucht, dabei hat er noch Glück.

Einer seiner Kollegen muss dem regen Treiben im Rimal-Viertel, wo die Busse und Taxis abfahren, tatenlos zusehen. "Ich würde auch gern fahren", sagt er mürrisch, "aber mein Tank ist leer."

In der letzten Woche hatte Israel die gesamten Öllieferungen in den Gazastreifen gestoppt. Erst seit Montagabend fließt wieder Treibstoff für die Inbetriebnahme des palästinensischen Elektrizitätswerkes. Benzin für den privaten Verkehr gibt es noch immer nicht. "Von mir aus können sie zu Fuß gehen", hatte Israels Premierminister lapidar kommentiert, allerdings gleichzeitig versprochen, eine humanitäre Krise nicht zuzulassen.

Zigaretten sind Mangelware im Gazastreifen, seit Israel nur noch die notwendigsten Waren liefert. Früher kostete eine Schachtel L & M sechs Schekel (einen Euro), nach dem Embargo handelte Schahin al-Raladschini, der einen Supermarkt im Stadtzentrum besitzt, die Schachtel für den dreifachen Preis. Seine Brüder sind unterwegs, um neue Ware in Ägypten zu kaufen. Schahin senkte den Preis für die Zigaretten schon gestern wieder auf acht Schekel. Außerdem hat er den Brüdern Käse in Auftrag gegeben und ein paar Konserven.

In seinem Laden gibt es, von Seifen und Windeln abgesehen, praktisch keine Ware mehr. Schahin, der hinter der Kasse einen Kalender mit dem Bild des Hamas-Gründers Scheich Achmad Jassin aufgehängt hat und bei den Wahlen selbst seine Stimme den Islamisten gegeben hat, ist enttäuscht über die neuen Machthaber im Gazastreifen. "Wir wollten Veränderung", sagt er, "aber so hatten wir uns das nicht vorgestellt".

Schuld an der Misere seien die "sinnlosen" Raketen. "Sie (die Hamas-Milizen) schicken hundert Raketen und nichts passiert, aber wenn die Israelis nur eine Rakete zurückschießen, werden immer gleich viele Menschen getötet." Außerdem seien die palästinensischen Raketen "schlecht für unser Image in der Weltöffentlichkeit", fürchtet Schahin.

"Wir sind offensichtlich besorgt über die Lage, da nun potenziell jeder in den Gazastreifen einreisen kann", erklärte Arye Mekel, eine Sprecherin des israelischen Außenministeriums. Aus Kreisen der israelischen Armee wurde die Befürchtung geäußert, die Lage könnte ausgenutzt werden, um Waffen nach Gaza zu schmuggeln. Abdel Rahman, ein 29-jähriger Hamas-Sicherheitsbeamter, der an seinem freien Tag das erste Mal in seinem Leben den Gazastreifen verlassen hat, um in Ägypten einkaufen zu gehen, winkt ab. "Waffen bis hin zu Panzerfäusten können überall in Gaza erstanden werden", sagt er und fügt hinzu: "Es ist einfacher in Gaza eine Waffe zu kaufen, als eine Flasche Cola oder Medizin."

Und anders als am Vortag schritt die ägyptische Grenzpolizei diesmal bei dem Massenausbruch nicht ein. Noch am Dienstag hatte die ägyptische Grenzpolizei mit Schlagstöcken, Wasserwerfen und Schüssen in die Luft eine Gruppe von palästinensischen Frauen davon abgehalten, am Grenzübergang Rafah durchzubrechen, dabei waren mehr als 60 Menschen verletzt worden. Die Bilder in den Abendnachrichten von ägyptischen Grenzpolizisten, die auf palästinensische Frauen einprügelten, waren für die Regierung des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak in Kairo verheerend, zumal sie schon zuvor unter innenpolitischem Druck stand, den Palästinensern im Gazastreifen beizustehen.

"Dies ist eine israelisch-amerikanische Blockade und die arabischen Regierungen stehen wortlos da und sehen zu", goss der Chef des Hamas-Politbüros, Chaled Maschal, aus Damaskus Öl ins Feuer. "Um die Blockade zu durchbrechen, sollte der Grenzübergang in Rafah permanent geöffnet und nur von Ägyptern und Palästinensern verwaltet werden, ohne sich von Israel erpressen zu lassen", forderte er.

"Mubarak, du soll nicht telefonieren, sondern den Palästinensern helfen", lautete eine Schlagzeile in der unabhängigen ägyptischen Tageszeitung al-Dustur in Anspielung auf ein Telefonat das Mubarak am Vortag mit dem israelischen Premier Ehud Olmert geführt hatte. Daraufhin hatte die Regierung in Kairo offensichtlich über Nacht beschlossen, ein Ventil zu öffnen. Bei dem Massenausbruch am Mittwoch schritt die ägyptische Grenzpolizei nicht mehr ein. "Ich habe die ägyptischen Sicherheitskräfte angewiesen, die Palästinenser hereinzulassen, so dass sie essen und einkaufen können, um dann wieder zurückzukehren, solange sie keine Waffen tragen", erklärte Mubarak später bei der Eröffnung der Buchmesse in Kairo.

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