Kommen Sie, kaufen Sie!

KRISE Die „Westfälische Rundschau“ nun ohne Redaktion: Vom Verlust der Pressevielfalt profitiert auch der Verlag

Man hat den Mitarbeitern klargemacht: Offene Äußerungen zum Aus ihrer Redaktion sind unerwünscht

AUS UNNA, DORTMUND UND HAGEN GABRIELA M. KELLER

An einem kalten, fahlen Januartag bricht die Mittagszeit an, als Volker Stephan im Unnaer Stadtzentrum steht und beginnt zu verkaufen, was ihm von seinem Alltag noch geblieben ist.

Er betritt die kleine Holzbude, die in der Bahnhofsstraße aufgebaut ist, schiebt die Verkaufsklappe hoch und kratzt ein paar Eisstücke vom Tresen. Dann zieht er den Handkarren mit dem Karton zu sich hinein, der voll ist mit Krimskrams und Erinnerungen. DVDs, ein altes Radio, Kunstkataloge und die historischen Schwarzweißfotos, die immer im Flur seiner Redaktion gehangen haben. „Ich hätte nicht gedacht“, sagt er, „dass meine Tätigkeit mal mit einem Stand in der Fußgängerzone endet.“

Ein Mittwoch, acht Tage nachdem bekannt wurde, dass die Redaktion der Westfälischen Rundschau (WR) am 1. Februar schließt. So hat es der Verlag, die WAZ-Mediengruppe, entschieden. Volker Stephan ist einer von 120 Redakteuren, deren Stellen damit aufhören zu existieren. Auch rund 150 freie Mitarbeiter sind betroffen. Die WR soll weiter erscheinen mit einem Lokalteil, der von anderen, konkurrierenden Zeitungen kommt. Die überregionalen Seiten werden schon länger in der WAZ-Zentralredaktion in Essen gestaltet.

Es bleibt: eine leere Hülle

„Ich versuche, bestimmte Sachen auszublenden“, sagt er. „Das hilft mir, die verbliebenen Tage zu überstehen.“ Er hat vor 28 Jahren angefangen, für die WR zu schreiben, mit 17 Jahren, als freier Mitarbeiter. Jetzt soll die Zeitung als leere Hülle am Markt bleiben, ohne Journalisten, ohne Redaktion. „Damit sagen sie uns: Was ihr gemacht habt, das können wir billiger einkaufen.“ Diesem Gefühl will er etwas entgegensetzen. Etwas, das Würde hat. Deshalb hat er den Verkauf organisiert, nach Vorbild der Financial Times Deutschland, die im Dezember eingestellt wurde; damals hatten die Mitarbeiter der Zeitung Andenken aus ihrer Redaktion auf Ebay versteigert und die Erlöse gespendet.

„Kommen Sie, stöbern Sie, kaufen Sie“, ruft Stephan in den Strom der Passanten. Er sammelt Geld für einen örtlichen Verein, der Kinder aus armen Familien unterstützt. Wie ein Protest soll die aber Aktion nicht wirken, sagt er.

Die WR-Mitarbeiter sind vorsichtig geworden. Man hat ihnen klargemacht, dass es nicht gern gesehen wird, wenn sie sich offen zum Aus ihrer Redaktion äußern. Viel war es nicht, was in der Rundschau über die geplanten Veränderungen zu lesen war. Nur ein paar Agenturmeldungen. Auch in den Konkurrenztiteln stand nicht mehr. Denn beide profitieren von dem neuen Arrangement: Die WAZ-Gruppe will mit dem Titel weiter Einnahmen erwirtschaften, die Kosten für die Redaktionen fallen aber weg. Die anderen Verlage verdienen zusätzliches Geld mit dem Verkauf ihrer Fotos und Texte.

Manches ist sogar unterdrückt worden. Einen Tag nachdem die WAZ-Gruppe ihre Pläne öffentlich gemacht hatte, stellten die Redakteure eine Seite mit Solidaritätserklärungen zusammen, sie sollte am 16. Januar in Druck gehen. Sie erschien allerdings nur in den Zeitungen, die mit der Post verschickt werden, in allen späteren Ausgaben fehlte sie. Stattdessen ein langer Artikel über einen Autounfall. Offenbar ist die Seite ausgetauscht worden. Wenig später ging eine E-Mail um, der stellvertretende Chefredakteur Lars Reckermann schrieb: „Aus übergeordnetem Interesse“ dürfe „im Lokalen eine Berichterstattung die WR betreffend nicht stattfinden“.

Volker Stephans Blick wandert aus dem Büdchen über die verschneite Straße. Er selbst hat die Mail nicht erhalten, sagt er. Und: „Wir spüren den Druck.“ Kaum einer will sich vorwagen und damit eventuell noch mögliche Verbesserungen des Sozialplans gefährden. Volker Stephan hat Kollegen sagen hören: „Ich riskiere nichts.“

Die Auflage der Rundschau, gegründet 1946, ist in den vergangenen Jahren stark gesunken. Zuletzt lag sie bei 110.000. Doch ein so abruptes Ende hat niemand kommen sehen.

„Damit haben wir nicht gerechnet“, sagt Susanne Schulte. Die Betriebsrätin sitzt in einem Café am Dortmunder Hauptbahnhof, eine schlanke Frau mit dunklen Haaren und harten Linien um den Mund. „Man arbeitet ja aus Überzeugung für die Rundschau“, sagt sie, „das haben wir seit Jahrzehnten so gemacht.“ Die Rundschau steht traditionell der SPD nahe. Die konkurrierenden Zeitungen, die ihr künftig zuliefern sollen, gelten als konservativ geprägt. Susanne Schulte versteht nicht, wie das überhaupt gehen soll. In Dortmund, am Stammsitz der WR, wird künftig der Lokalteil der Ruhr Nachrichten beiliegen. Damit, meint sie, wird nicht nur die Konkurrenz zwischen den Titeln ausgehebelt; der Region geht auch ein Stück Meinungsvielfalt verloren. Doch selbst die Betriebsrätin hält sich zurück.

Sie sitzt da wie zusammengefaltet, den Kopf gesenkt, die Finger ineinander verschränkt. Der Betriebsrat hat eine Dreiviertelstunde vor allen anderen erfahren, dass die Redaktion zerschlagen werden soll. Die WAZ-Gruppe sagt, dass die Rundschau in fünf Jahren 50 Millionen Euro Verlust gemacht hat. Unklar ist, ob das stimmt und wie die Zahl errechnet wurde. Arbeitnehmervertreter schätzen, dass der Konzern im vergangenen Jahr eine Rendite von 14 Prozent erzielt hat. Susanne Schulte lässt Fragen zur wirtschaftlichen Lage des WAZ-Verlags abprallen; ihr fehlen Informationen, sagt sie. Sie hat dieser Tage viel zu tun, tagt mit dem Betriebsrat, verhandelt mit der Personalleitung. Es geht um die Abfindungen, um den Sozialplan. Um die Abwicklung der Redaktion.

Es wird allmählich Nachmittag in Unna. Eine Leserin stellt sich vor Volker Stephans Stand und ruft: „Das ist ja ein Ding mit der Rundschau!“, der Redakteur nickt wortlos. Dann tritt eine weitere Frau hinzu; Remona Tingelhoff ist Café-Inhaberin und WR-Abonnentin; das war sie zumindest bis jetzt. „Ich habe gekündigt“, sagt sie. „Ich bin entsetzt, wie mit den Mitarbeitern umgegangen wird.“ Kurz zögert sie, ehe sie ihren Namen nennt – es wird in Unna nur noch den Hellweger Anzeiger geben, und was, wenn sich dessen Redaktion über ihre Kritik ärgert und nicht mehr über ihr Café berichtet? Solche Fragen stellen sich die Leute jetzt in Unna. „Es wird nur noch eine Zeitung geben“, sagt sie, „und das ist schon Scheiße.“

Sie ist nicht die Einzige, die sich aufregt. Mehr als 6.300 Menschen haben im Internet die Petition „Rundschau retten“ unterzeichnet. Es gab eine Demonstration mit mehr als 1.000 Leuten in Dortmund, dazu noch ein paar kleinere Proteste. Doch alles in allem regt sich wenig Widerstand, sagt Jochen Marquardt: „Der Kampfgeist ist unten, da müssen wir uns nix vormachen.“ Der Geschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) Region Ruhr-Mark sitzt in seinem Büro in Hagen und zündet sich eine Zigarette an. Schon zu lange lebten die Redakteure mit dem Gefühl: Mit uns wird etwas Schlimmes passieren. Er wirft die Hände in die Luft: „Widerwärtig, was da passiert!“

Dann zieht er zwei Hagener Lokalteile hervor, aus WR und Westfalenpost. Das eine Logo ist rot, das andere ist blau. Sonst gleichen sich die Seiten. Manche WR-Redakteure sind vor Stress krank geworden, andere haben sich freigenommen. Also sieht die Berichterstattung jetzt schon aus, wie es künftig immer sein soll. Deckungsgleich, nur in einer anderen Farbe.

Die Zukunft: konservativ

Jochen Marquardt hat überlegt, was er tun kann, zumindest das Sprechverbot wollte er aushebeln. Also lud er zu einem Pressegespräch über den Zerfall der regionalen Medienlandschaft ein. Er dachte: Wenn es einen lokalen Termin gibt, muss die Presse doch schreiben. Die Redakteure der zwei Zeitungen kamen auch – nur berichtet wurde in keiner von beiden. Marquardt fragt sich jetzt, wer künftig noch über die Gewerkschaften in der Region schreiben wird. Von ihm aus, sagt er in eine Wolke aus Zigarettenrauch, kann es gern konservative Zeitungen geben, „aber doch nicht nur!“

Anja Wetter ist an diesem Tag zu dem Termin des DGB gegangen. Erst, sagt sie, habe ihr der stellvertretende Chefredakteur gesagt, ihr Text könne vielleicht auf einer überregionalen Seite erscheinen. Dann wartete sie auf die endgültige Zusage bis 19 Uhr. „Dann war klar, dass nichts mehr passieren wird“, sagt sie. Die Redakteurin, zierlich, kurze Haare, kauert am Esstisch ihrer Altbauwohnung. Sie hält sich mit beiden Händen an ihrer Kaffeetasse fest. Sie sagt, dass sie es erst gar nicht fassen konnte, dass ihr eine Zensur aufgezwungen wurde.

Sie erzählt das ganz ruhig, doch nach einer Weile bricht traurige Wut aus ihr heraus: „Du kannst doch dieses Haus als Medienhaus nicht mehr ernst nehmen“, ruft sie. Was jetzt werden soll, weiß sie nicht. Inzwischen habe sich Resignation breit gemacht, sagt sie: „Wir machen jetzt halt den Job zu Ende.“