Bürgerbeteiligung: Bürger beraten Beamte

45 Berliner überreichen der EU-Kommission heute ihre Vorschläge zur Zukunft Europas. Ob Politiker sich das Ergebnis zu eigen machen, ist ungewiss.

Jochen Fest ist Sachbearbeiter bei der Deutschen Bahn und hatte bis zum Oktober 2006 nicht mehr Einfluss auf die Geschicke Europas als jeder andere Normalsterbliche. Dann kam der Brief, der ihn zum Bürgergutachter machte. Und Jochen Fest begann, die Zukunft der Europäischen Union zu entwerfen.

Knapp eineinhalb Jahre später liegt das Ergebnis vor: Am heutigen Freitag übergeben Fest und seine 44 Gutachterkollegen ihre Vorschläge der EU-Kommission. Diese versucht, die Union näher an die Europäer heranzubringen. Dass das notwendig ist, weiß man spätestens, seit Franzosen und Niederländer 2005 den Verfassungsvertrag für Europa ablehnten. "Das Gutachten ist für uns ein Mittel, einen Dialog mit den Bürgern zu führen", sagt Harald Händel von der Berliner Vertretung der Kommission. Die Europäer könnten so ihre Meinung über die Zukunft der Union einbringen.

Mit einem einfachen Ja oder Nein war es diesmal aber nicht getan: Die Bürgergutachter mussten an vier Tagen morgens um halb neun antreten. Auf dem Stundenplan standen Diskussionen über "Umwelt und Energie", "Familie und soziale Sicherung" sowie "Immigration und Europas Rolle in der Welt". Die Gutachter waren per Zufallsstichprobe aus dem Melderegister ausgewählt worden. Damit sie auch genügend motiviert sind, gab es eine Aufwandsentschädigung. Außerdem durften die Teilnehmer die Konferenzen in einer vornehmen Steglitzer Villa als Bildungsurlaub verbuchen.

"Ich habe mit Freude mitgemacht", erinnert sich Bürgergutachter Fest, ein ruhiger, rundlicher Mann mit Brille und Glatze. Vorher sei die EU für ihn ein fremdes Thema und weit entfernt von seinem Alltag gewesen. "Als Laie, der zum Gutachter geschlagen wurde, höre ich jetzt genauer hin, wenn es in den Nachrichten um Europa geht." Auch viele seiner Freunde würden sich nun mehr für Europa interessieren, sagt der 38-Jährige.

Weil die Mehrheit der Gutachter mit Europa ähnlich wenig zu tun hatte wie Fest, hielten Experten kurze Einführungsvorträge zum jeweiligen Gegenstand. Erst dann machten sich die Teilnehmer in Kleingruppen an die Meinungsbildung. "So konnten wir auf Augenhöhe diskutieren", sagt Fest. Jede Gruppe hatte pro Thema 20 Minuten Zeit, um eine konkrete Frage zu bearbeiten und sich auf eine gemeinsame Position zu einigen. Dann wurden die Ergebnisse verglichen. Dabei ging es etwa um die Nutzung alternativer Energiequellen oder die Sicherung der EU-Außengrenzen. "Der Zeitdruck war hilfreich, sonst wären wir nie zu einem Ergebnis gekommen", sagt Fest.

Doch trotz Meinungsverschiedenheiten seien die Diskussionen ruhig und sachlich verlaufen. "Es bestand Konsens darüber, dass alle für ein einiges Europa sind, auch wenn wir unterschiedliche Wege dorthin wählen würden", erinnert sich Fest. So sei man sich rasch einig gewesen, dass erneuerbare Energiequellen auf europäischer Ebene gefördert werden sollten. "Aber die meisten fanden auch, dass wir sichere Atomkraftwerke brauchen, um unsere Energieversorgung sicherzustellen."

Neue Impulse enthält die 185 Seiten starke Akte daher nicht. So plädieren die Berliner EU-Bürger bei der Grenzpolitik der Union für ein klares Sowohl-als-auch: Abschotten solle Europa sich nicht, die Zuwanderung müsse aber gesteuert werden. "Insgesamt orientieren sich die Bürger stärker am europäischen Gemeinwohl als die Politiker, die vor allem an nationale Interessen denken", sagt Nicolas Bach vom Nexus-Institut, das die Konferenz organisiert hat. So fordern die Bürgergutachter zum Beispiel von der EU, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder die Schulbildung zu verbessern - Bereiche, für die Europa gar nicht zuständig ist.

Parallel zu den Berlinern berieten auch 40 Budapester Bürger über die Zukunft der EU - und kamen zu ähnlichen Ergebnissen. "Der größte Unterschied ist, dass die Ungarn sich für eine rasche Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der EU aussprachen, während die Deutschen sich eher um die Sicherheit der Außengrenzen sorgten", sagt Bach. Ungarn habe man gewählt, damit auch einer der kleineren neuen EU-Staaten aus Osteuropa vertreten sei. Die restlichen 25 Mitglieder durften nicht bei der neuen Form der Meinungsbildung mitmachen.

Dietrich Lange dagegen durfte: Auch er war einer der privilegierten Berliner Bürgergutachter. Allerdings macht sich der pensionierte Jurist keine Hoffnungen, dass seine Gutachtertätigkeit in Brüssel große Wirkung entfaltet: "Ich habe gern mitgemacht, aber der Erkenntnisgewinn liegt vor allem bei den Teilnehmern selbst", sagt der 75-Jährige. "Spätestens wenn unsere Ideen auf europäischer Ebene ankommen, sind sie wahrscheinlich so stromlinienförmig geworden, dass sie nichts verändern werden."

Das glaubt man in der Berliner Kommissionsvertretung nicht. "Wir leiten das Gutachten an EU-Kommissarin Margot Wallström weiter", erklärt Sprecher Händel. Die Schwedin ist für die Kommunikation Europas mit seinen Bürgern zuständig. "Sie wird die Ergebnisse in ihre Einschätzungen einfließen lassen", so Händel. Allerdings solle das Gutachten nicht eins zu eins umgesetzt werden, ergänzt Bach. "Aber wir hoffen natürlich, dass die Meinung der Bürger in das Bewusstsein der europäischen Entscheidungsträger eingeht."

Auch Jochen Fest setzt darauf, dass die Früchte seiner Arbeit nach der feierlichen Übergabe nicht in der Schublade verschwinden: "Wir haben uns so viel Mühe gemacht, da erwarte ich auch, dass die EU-Politiker sich das Ergebnis ansehen."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.