90 Jahre Rote Armee: Schule der Demütigung

Auch wenn Jahr für Jahr 3.000 Soldaten im Dienst vor die Hunde gehen, bleibt im durchmilitarisierten Bewusstsein der Nation die Armee Rückgrat und Garant russischer Größe.

Junge Soldaten: Kanonenfutter oder Opfer der sadistischen Neigungen ihrer Vorgesetzten. Bild: dpa

MOSKAU taz Russlands Armee zieht von Sieg zu Sieg. Ihr hartnäckigster, ausdauerndster Gegner ist die Wirklichkeit. Doch dieser Feind ist schwach angesichts einer Streitmacht, die über eine Wunderwaffe verfügt: den Mythos. Er stürmt und überrennt die feindlichen Gräben ohne Verluste. Die Armee bleibt im durchmilitarisierten Bewusstsein die Schule der Nation, Rückgrat, Unterpfand und Garant russischer Größe, der vergangenen, gegenwärtigen und noch kommenden. Kaum ein Fernsehabend, an dem die Rote Armee nicht in Berlin einrückt. Jeder möchte gerne dabei sein - auf dem Reichstag.

Nicht unbedingt in der Armee, denn die hat Nachwuchssorgen. Eltern, die es sich leisten können, kaufen ihre Söhne vom Wehrdienst frei. Gezogen werden die Ärmsten der Armen. Kranke, anfällige und meist schlecht ausgebildete Jungen. Kanonenfutter, mit dessen Massen die Armee am Ende dann doch jede Schlacht noch für sich entscheidet. Die meisten Rekruten ereilt der Heldentod aber nicht im Felde oder Manöver. Nachdem sie eine Schule der Demütigung durchgemacht haben, laufen sie Amok, desertieren, begehen Selbstmord oder sterben durch die Hand der Vorgesetzten. Junge Soldaten werden misshandelt. Rekrut Rudakow hatten höhere Dienstränge die Nieren zertrümmert, er starb vergangene Woche und wurde mit militärischen Ehren beigesetzt. Rekrut Sytschew überlebte 2006 eine Folternacht, ließ aber beide Beine und Hoden auf dem Altar des Vaterlandes. Zu spät kam die Hilfe auch für Sergej Sinkonen, den seine besoffenen Peiniger in Plesezk den Hunden vorwarfen.

Weit mehr als 3.000 Soldaten gehen beim Dienst fürs Vaterland jedes Jahr vor die Hunde. Ein Zehntel davon in Ausübung ihres Dienstes. Wer sein Kind liebt, schützt es vorm Vaterland. Der Zustand der Armee ist erbärmlich. 17,6 Prozent der geahndeten Verbrechen beim Militär gehen auf das Konto des Offizierskorps. 15 Prozent aller Verbrechen begehen Berufssoldaten, allein 2007 verzeichnete die Oberste Militärstaatsanwaltschaft einen Verbrechensanstieg um ein Drittel. Das sind nur die offiziellen Daten. Kein Wunder, wenn niemand dienen möchte. Hinter vorgehaltener Hand geben Militärs denn auch zu, dass sie gerade mal so viele neue Soldaten rekrutieren können wie desertieren. Die Teilumstellung auf Zeit- und Berufssoldaten schuf weder Abhilfe, noch stoppte es den moralischen und professionellen Verfall der Streitkräfte. Die Generalität war ohnehin dagegen und boykottierte die Reform. Unterm Strich soll die Profiarmee nicht schlagkräftiger sein als das Volksheer. Einer der Gründe ist, dass viele Soldaten erpresst und genötigt werden, Zeitverträge zu unterschreiben. Durch Gewalt, Betrug und Hinterlist. Das motiviert nicht zum Heldentod. Dennoch sei an ein altes russisches Sprichwort erinnert: "Die russische Armee ist nie so stark, wie sie sich selbst darstellt, aber auch nie so schwach, wie sie von außen erscheint." Und auch Leo Trotzki, Gründer der Roten Armee, hatte das Übel schnell erkannt: "Die Armee ist eine Kopie der Gesellschaft, sie leidet unter den gleichen Krankheiten, nur mit wesentlich höherer Temperatur."

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