Debatte Linksruck: Kein Ruck geht durchs Land

Was soll das Gerede, Deutschland bewege sich nach links? Die Wähler wollen das System der Bundesrepublik nicht überwinden, sondern eine gerechte Teilhabe an ihm erreichen.

Wer schützt Deutschland vor Kurt Beck, der im Pakt mit den Roten nach der Macht giert? Und mal ehrlich: Wer hatte ihn, den Tapsigen, im Verdacht? Ottmar Schreiner, Andrea Nahles - bei beiden könnte man sich das vorstellen. Aber Kurt Beck als politische Schläfer im Pfälzerwald, nur auf die Chance wartend, mit Oskar, Gregor, Wladimir, Rosa und Karl zusammen Deutschland zu übernehmen?

Ein Glück, dass die Medien wachen: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckt Aufklärungsgrafiken unter der Überschrift "Rotes Deutschland". Ihnen ist zu entnehmen, dass Oskar Lafontaines Truppen bereits hinter Frankfurt stehen, bereit, in den Süden vorzustoßen.

Der Spiegel stellt Kurt Beck in die richtige Galerie: nicht mit Weinbruder Rainer Brüderle, sondern mit den roten Revolutionären Lafontaine, Lenin und Marx. Die Zeit verliert vor lauter Aufregung ihr Niveau ("Kurtschluss"), gibt dem Parteivorsitzenden jedoch wenigstens noch eine Chance, indem sie ihn in die politische Fratze von Rosa Luxemburg schauen lässt: erst Sozialdemokratin, dann Kommunistin; so winkt sie warnend dem Mainzer mit der als Bildzeile getarnten Dachlatte.

Gut, dass die Medien wachen und nicht allein sind: Die führenden deutschen Wirtschaftsliberalen kennen in diesen Tagen ihre eigene Partei nicht mehr, sondern nur noch die eine gemeinsame große Aufgabe - von Walter Steinmeier (Nicht mit der Linken!), Peer Steinbrück (So nicht!), Matthias Platzeck (Den Linken nicht nachlaufen!) bis Angela Merkel (Wortbruch!) -, gemeinsam den drohenden Durchmarsch zu stoppen. Schaffen sie es?

Es wird viel darüber lamentiert, die Qualität der Medien sei in Gefahr. Die Beispiele zeigen: Das ist nicht der Fall. Vielmehr ist die Qualität hoch. Die Medien schaffen es, innerhalb von kurzer Zeit aus langweiliger politischer Wirklichkeit spannende Unterhaltung pur zu konstruieren.

Doch der politische Stoff, aus dem diese packenden Drehbücher gemacht sind, ist mehr als mager. Seit Jahren gibt es bundesweit Umfragemehrheiten gegen eine bürgerliche Regierung und damit eine rein rechnerische Alternative links des Mainstreams. Seit geraumer Zeit nimmt die Partei, die sich Die Linke nennt, bei Landtagswahlen im Westen in der Regel die Fünfprozenthürde. Die Folgen: Zum einen ist via Die Linke die soziale Frage, die unter Kanzler Schröder mit der Agenda 2010 weggesprengt worden ist, erneut verlässlich in das Parteiensystem reintegriert. Zum anderen: Analysen zeigen, dass die Linkspartei viele Protestwähler anzieht. Das wiederum bedeutet, dass die Wahlerfolge der Linkspartei nicht stabil, sondern fragil sind. Und das heißt auch, dass die Partei von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine dieser Demokratie einen Dienst erweist: Ihr ist es zu verdanken, dass die rechten Parteien im Moment so gut wie keine Rolle spielen. Das ist nicht selbstverständlich. Anderswo wählen die sogenannten Modernisierungsverlierer Rechtsradikale. In Deutschland integriert also vor allem die Linkspartei diese Gruppen. Der nicht zu überschätzende Vorteil: Die Linkspartei ist - trotz ihrer vor allem von Oskar Lafontaine zu verantwortenden (seltenen) autoritären, sozial-nationalen Ausflüge und ihrer (sehr seltenen) latent fremdenfeindlichen Einsprengsel - nicht rassistisch, nicht nationalistisch, sondern demokratisch und plural. Ein Gewinn für diese Demokratie, der mit einem Linksruck nichts zu tun hat.

Nun wird argumentiert: SPD, Grüne und Linkspartei haben seit Jahren Umfragemehrheiten und nun auch noch die eine oder andere rechnerische Parlamentsmehrheit. Die Addition ergibt jedoch keine Politik. Denn diese drei Parteien können (noch) nicht miteinander: Da spielt der einstige SPD-Vorsitzende Lafontaine eine Rolle und seine Partei, die nicht nur von Proteststimmen lebt, sondern sich mehr als andere in einem programmatischen Gärungsprozess befindet. Da spielt eine Rolle, dass die SPD auf absehbare Zeit zu schwach ist, um in einem solchen Bündnis die Rolle des Kraftzentrums zu übernehmen. Und da spielt eine Rolle, dass nicht klar ist, wohin die Grünen tendieren. Sie sind im Kampf gegen den Mainstream groß geworden und vor geraumer Zeit in ihm gelandet. Jetzt, da die Linkspartei bundesweit präsent ist, alle Protest- und Linkswähler absaugt, müssen sie mit potenziellen 6 bis 8 Prozent Wählerstimmen sich inhaltlich so positionieren, dass sie mal im bürgerlichen und mal im linken Lager mitspielen können; Hamburg wird das Testfeld dafür sein.

Warum dann dieses ständige Reden über einen Linksruck? Seriöse Institute haben mehrfach das Bewusstsein des Volkes erforscht und Folgendes herausgefunden: Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Juli 2006 sagen 83 Prozent der Bevölkerung, soziale Gerechtigkeit sei der wichtigste zu bewahrende Wert. 61 Prozent sagen, es gebe keine Mitte mehr, sondern nur noch ein Oben und Unten. In zwei weiteren Umfragen der Institute Allensbach und Emnid vom Herbst 2007 sind unabhängig von Parteipräferenzen breite Mehrheiten dafür, einen Mindestlohn einzuführen, die Gewerkschaften zu stärken, der sozialen Gerechtigkeit mehr Bedeutung beizumessen, deutliche Mehrheiten sind gegen eine Rente mit 67, für einen stärkeren Staat und gegen weitere Privatisierungen. Die Mehrheit der Bürger sieht die sozialen Verhältnisse außer Balance, starke soziale Kräfte sollen das wieder richten. Viele Politiker, Wirtschaftsführer, große Teile der veröffentlichten Meinung, wichtige ehemals linksliberale Medien interpretieren das, was zu einer intakten sozialen Marktwirtschaft gehört, als Linksruck. Linke Politik ist das nicht: die Zerschlagung der Bankenmacht und der Energie-Oligopole, mehr Demokratie in Betrieben, die Umverteilung von Vermögen von oben nach unten, die rigide Besteuerung von Erbschaften, Aktiengewinnen, Spitzeneinkommen, eine gute öffentliche Infrastruktur in vielfältigen öffentlichen Besitzverhältnissen, einen neuen Sozialstaat, der großzügige Hilfe, Selbsthilfe und Emanzipation gleichermaßen verbindet. Da die Linke noch nicht definiert hat, was sie will, schütten die anderen dieses Vakuum nach eigenem Gutdünken auf.

Rückt Deutschland nach links? Leider nein. Es ist nicht nur richtig, sondern unabdingbar, Kurt Beck wegen seiner Unglaubwürdigkeit - vor der Wahl die mit religiöser Inbrunst vorgetragene totale Abgrenzung und danach die Kehre - zu kritisieren. Aber was soll dieses Geschrei des politisch-medialen Komplexes über den Linksruck? Was sich in Wahlen und Umfragen ausdrückt, ist etwas anderes, und alle wissen es: Die Menschen wünschen sich in diesen unsicheren Zeiten eine soziale Schutzmacht. Sie wollen dieses System nicht überwinden, nicht einmal verändern, sie wollen fair an ihm teilhaben. Die politische Mitte dieser Republik ist so weit nach rechts verrückt, dass dieser Wunsch schon mit Erfolg als linkes Abenteurertum inszeniert und denunziert werden kann.

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