Emanzipierte Beziehung als Wille und Wahn: Nervige Formen des Glücks

Kann man stolz auf Beziehungsstress sein? Ist die Paartherapie ein Fortschritt? Wir haben Tragik und Unglück eingetauscht gegen die permanente Anstrengung.

Je intimer und näher der Umgang miteinander, desto höher das Risiko für Ärger Bild: dpa

Zu den großen Rätselworten der Literatur, zu denen man seine Ansichten und Erfahrungen immer aufs Neue ins Verhältnis setzen kann, gehört der berühmte Anfang des so lebensklugen Frauen-, Männer-, Liebes-, Beziehungs- und Gesellschaftsromans "Anna Karenina" von Leo Tolstoi. Dieser Romanbeginn ist ein guter gedanklicher Sparringpartner, wenn man versucht, sich einmal über den Stand der sozialen Beziehungen klar zu werden.

"Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." Seitdem ich diese beiden Sätze kenne, male ich mir immer mal wieder die verschiedensten Arten des Unglücklichseins aus: Man kann sich betrügen und furchtbar verletzen; man kann sich treu bleiben und zu Tode langweilen; man kann sich Kinder wünschen und keine bekommen; man kann sich keine Kinder gewünscht und voreilig welche bekommen haben; man kann sich in einem zähen Abnutzungskrieg ineinander verbohren; man kann Bett und Tisch teilen und sich dennoch verachten - da fallen mir, je älter ich werde, immer mehr fiese Möglichkeiten ein. Lebenserfahrung nennt man so etwas wohl.

Glückliche Beziehungen hatten dagegen lange Zeit für mich tatsächlich so einen gleichmacherischen Hauch von Wochenend-Wohlfühl-Werbespots mit fettreduziertem Fruchtjoghurt im Einkaufskorb.

Letzteres hat sich inzwischen aber geändert - und ich glaube schon, dass das auch etwas mit einem Fortschritt zu tun hat. Wenn man mal das große Bild mit dem ganz dicken Pinsel hinmalt, lässt sich das, was seit Tolstois Zeiten passiert ist, doch als Steigerung der Möglichkeiten von legitimiertem Glück beschreiben. Anna mit ihrem Mann, ihrem Geliebten, dem Sohn aus der Ehe und der unehelichen Tochter in einer Patchworkfamilie? Das stellt man sich immer noch ziemlich anstrengend vor, aber immerhin nicht mehr ganz unmöglich - und vielleicht auch gar nicht mehr so langweilig. Das Glück gleicht sich eben nicht mehr unbedingt. Wenn einem heute wer erzählt, er lebe in einer glücklichen Beziehung, denkt man doch nicht mehr sofort: Aha, Reihenhaus, zwei Kinder, Volkswagen, viel Spaß dabei! Sondern man ist, wenn sich die Gelegenheit ergibt, sogar versucht nachzufragen, wie dieses Glück denn genau aussieht und vor allem: wie sie es überhaupt hinbekommen!

Es sind offenbar zwei Punkte, die einen mittlerweile wenigstens vom ersten Satz dieses Romananfangs trennen. Zum einen gibt es eine Entwicklung hin zu immer mehr Möglichkeiten des Glücks. Mit Kindern, ohne Kinder, lebenslang, als Single, unbedingte Monogamie, emotionale Nebenarrangements (soll es geben), ständig auf der Suche nach neuen Verliebtheitskicks, lieber zurückhaltender Umgang mit Sex bis hin zum selbstgewählten Zölibat (soll es auch geben) - ein jeder dieser Lebensentwürfe hat bestimmt seine Tücken und vor allem kann man sie nicht beliebig kombinieren; aber etwas Besseres als ein klammheimliches Leiden an einem 08/15-Leben kann man für sich suchen.

Dieser Punkt lässt sich in Erzählungen von gesellschaftlicher Liberalisierung eintragen und auch in heroische Geschichten von Emanzipation. Anna Karenina hat sich vor den Zug geworfen. Die Steigerung von Wahlmöglichkeiten kann man dagegen als ein Programm zur Vermeidung oder wenigstens zur Verringerung von Lebenstragik verstehen. Ein Spiel auf Leben und Tod soll keine emotionale Verzweiflung mehr hergeben.

Der zweite Punkt hat allerdings etwas Postheroisches. Er besteht darin, dass das Glück inzwischen seine Selbstverständlichkeit verloren hat. Tolstoi schrieb seinen Romananfang noch in dem Bewusstsein, dass sich Glück nur in einem Aufgehen in vorgezeichnete Bahnen - des gesellschaftlich Üblichen oder der metaphysischen Bezüge - herstellt. Das sieht man heute grundlegend anders. Wirkliches Glück hat heute für viele etwas mit Man-selbst-sein-Dürfen zu tun. Und man weiß inzwischen, dass sich Beziehungsglück niemals von selbst ergibt - auch wenn die Sehnsüchte das noch so gerne wollen würden -, sondern das Ergebnis einer permanenten Anstrengung ist. Unzählige Beziehungs-Ratgeber, Coaching-Angebote und Paar-Therapeuten künden davon.

Ich glaube, genau zwischen diesen heroischen Emanzipationserzählungen und postheroischen Einsichten hängen sowohl Männer als auch Frauen gerade in der Luft. Selbst diejenigen AutorInnen, die öffentlich den Stand der Emanzipation für einen angeblichen Verfall der sozialen Ordnung verantwortlich machen, leben im Zweifel nach genau diesen Emanzipationsmaximen. Niemand gibt sich mehr mit einem Partner zufrieden, von dem er sich nicht individuell gemeint fühlt. Auf der anderen Seite hadern aber auch diejenigen AutorInnen, die sich unerschrocken gegen gesellschaftliche Backlash-Tendenzen in die Bresche werfen, gelegentlich mit den Zumutungen, die ein Zusammenleben als Paar mit Emanzipiertheitsanspruch bereithält.

Dass Glück manchmal ziemlich nervige Formen annehmen kann, ist eine Erfahrung, die sowieso erst einmal verarbeitet sein will. Das ständige Abarbeiten aneinander ist oft der Begleitumstand dessen, dass zwei Leben aufeinander eingetaktet werden. "Der erste Ärger in der Paarbeziehung ist das Zeichen dafür, dass der Prozess zur Herstellung einer Einheit in Gang gesetzt ist", schreibt der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann in seinem gerade auf Deutsch erschienenen neuen Buch. Und weiter: "Je häufiger, näher, intimer der Umgang miteinander ist, je mehr er ans Verschmelzen grenzt, desto höher ist das Risiko für Ärger." Was, wenn man mal ganz unsentimental auf das Zusammenleben zweier gleichberechtigter Menschen draufguckt, auch gar nicht anders sein kann. Aber etwas ernüchternd ist das dennoch immer mal wieder. Summer of Love und sexuelle Revolution hatten jedenfalls etwas anderes versprochen als Ärger und Beziehungsarbeit.

Wie fühlt man sich also mit diesen Fortschritten? Ausgerechnet der zynische Humphrey Bogart sagt am Schluss des Films "Casablanca" einen Satz zu Ingrid Bergman, der auf die Mischung aus unbedingtem Willen dafür, Genervtsein und In-der-Luft-Hängen, mit der man die emotionalen Fortschritte in sozialen Beziehungen begleitet, ein interessantes Licht wirft. Er sagt: "Zur Erkenntnis, dass die Probleme dreier Menschen in dieser verrückten Welt ohne Belang sind, gehört nicht viel." Wohlgemerkt, er verspricht der Frau, die er liebt, hier nicht, dass alle Probleme aufhören werden. Er sagt nur, dass sie ihre Beziehungsprobleme derzeit nicht bearbeiten können; es ist Krieg, und der Mann, der zwischen ihnen steht, ist wichtig, um die Nazis zu bekämpfen.

Kann man von diesem Satz aus sogar eine Art Stolz selbst noch auf Beziehungsstress und Emo-Zumutungen entwickeln? Manchmal denke ich, so viel Heroismus im Postheroismus sollte schon sein (kriege es im Zweifel aber auch nicht hin, ihn aufzubringen). Die Probleme werden nicht aufhören, aber immerhin sind sie inzwischen von Belang - als Voraussetzung dafür, dass Beziehungen nicht nur auf eigene Art unglücklich werden können. Sondern auch auf eigene Art glücklich. Fortschritt ist ja auch sonst oft nicht ohne Ambivalenzen zu haben.

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