Interview zur Krise der Maskulinität: "Die Männer werden depressiver"

Männer verwechseln Sensibilität mit Ohnmacht. Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter redet über die unsichtbare Krankheit der Männer und wünscht sich einen Zustand der Elterlichkeit.

Abgeworfen und aufs Kreuz gelegt: Mann hat den Glauben an sich verloren. Bild: dpa

taz: Herr Richter, angeblich ist das 21. Jahrhundert das "Jahrhundert der Frauen". Sie übernehmen etwa vermehrt Chefposten. Was bedeutet das für die Männer?

Horst-Eberhard Richter: Das Verhältnis der Geschlechter hat sich in den letzten hundert Jahren revolutionär gewandelt. Die Frau hat sich vervollständigt, indem sie ihre unterdrückten Qualitäten, die sie früher an die Männer delegiert hat, nun selber entwickelt. Es wäre also gut für den Mann, sich auch zu vervollständigen, Eigenschaften, die er unterdrückt oder an die Frau delegiert hat, zu entwickeln, also Sensibilität, Fürsorglichkeit, Bindungsfähigkeit nicht als Schwäche oder Minderwertigkeit oder Unmännlichkeit zu denunzieren, wie er es jahrhundertelang gemacht hat. Das macht aber Angst. In einer Tiefenschicht unserer Kulturseele ist immer noch die Vorstellung wirksam, der Fortschritt bestehe aus der Unterwerfung der Welt unter männliche Herrschaft.

Muss Männlichkeit immer mit Konkurrenz verbunden sein?

Siegen und erobern, das ist das unausgesprochene Ziel der wissenschaftlich-technischen Revolution. Jetzt, da vielen Gott abhandengekommen ist, der tröstet und schützt, glauben wir, diesen ersetzen zu müssen, indem wir selbst zu Gott werden, zu einem männlichen Allmachtsgott. Diese Vorstellung ist nach wie vor wirksam, trotz Emanzipation der Frau, die doch eigentlich zu einem besseren Zustand führen müsste. Zu einem Zustand, den ich als Elterlichkeit bezeichnet habe, in dem beide Geschlechter lernen, dass nicht die Natur uns gehört, sondern wir zur Natur gehören.

Durch männliches Konkurrieren ist viel Positives entstanden: Erfindungen, Kulturgüter. Ist es nicht irreführend, das als schlecht anzusehen?

Die Selbstbefreiung aus mittelalterlicher Unmündigkeit hat zu vielen wertvollen Erkenntnissen und Erwerbungen geführt, die uns, bis heute, ungemein kulturell bereichert haben. Aber an der lebensgefährlichen Naturzerstörung und an der Anklammerung an atomare Massenvernichtungswaffen erkennen wir eine gefährliche Einbuße an ethischen Maßstäben in der Neuzeit.

Im Zuge der Globalisierung bekommen Frauen weltweit Jobs, die schlecht bezahlt sind, Männer aber als Ernährer und Familienoberhaupt entmachten. Gibt es die Gefahr, dass sich Männer kollektiv rächen?

Nach unseren Untersuchungen sind die Muster von dem, was kulturell als Männlichkeit und Weiblichkeit verstanden wird, über Jahrzehnte hinweg konstant geblieben, trotz Frauenemanzipation. Ein Beispiel: Frauen geben Leiden sehr viel eher zu als Männer. Männer glauben, sie dürften nicht klagen, sie reden nicht darüber. Ich habe das auf die Formel gebracht: "Das sichtbare Leiden der Frauen ist die unsichtbare Krankheit der Männer." Letztere können sich ihre Leiden nicht eingestehen und sterben früher. Frauen liegen auch beim Helfen oder Mitfühlen seit Jahrzehnten vor den Männern. Die jungen Männer hierzulande rächen sich vielleicht nicht, aber sie werden immer depressiver.

Die Männer bleiben Gefangene ihres Rollenbildes?

In meinem neuen Buch "Krise der Männlichkeit" beschreibe ich, dass und wie Männer ihr Selbstverständnis ändern können. Aber für das Umdenken sind auch die Frauen wichtig, die sich in meiner Jugend Helden für Hitler gewünscht haben und künftige Hitler-Soldaten gebären wollten. Es geht also um gemeinsame Überwindung eines fatalen Erbes.

Haben es die deutschen Männer besonders schwer, eine andere Männlichkeit zu entwickeln? Nirgendwo anders wurde Männlichkeit so durchmilitarisiert wie in der Nazizeit. In Großbritannien war Fairness ein Gegenpol zur Militarisierung, in Frankreich die progressiven Ideen der Französischen Revolution.

Tatsächlich fehlt uns eine identitätsstiftende Revolution wie die französische. Aber als Psychoanalytiker erkenne ich Anzeichen, dass die Remilitarisierung der deutschen Politik in der Bevölkerung und zumal in der Jugend auf wachsendes Unbehagen stößt. Umfragen zeigen: Eine klare Mehrheit will keine deutschen Soldaten am Hindukusch, keine Tornados in Süd-Afghanistan, keine US-Atombomben in Deutschland und keinen militarisierten Überwachungsstaat. Dementsprechend rangiert nach einer großen Umfrage Angst vor der Bürgerferne der Politiker weit vor der Terroristenangst.

Vielleicht besteht die Krise der Männlichkeit ja auch darin, dass viele Jungs sich keine Vorbilder suchen. Sondern sich mit den künstlichen Muskelmännern in den Medien zufrieden geben.

Und in der Spaßwelt. Aber ich erlebe in zahlreichen Schulen, die mich einladen, ein ermutigendes Interesse in den höheren Schulklassen für eine humanistische Wertewelt - siehe Attac.

Der US-Anthropologe David Gilmore stellt in "Misogyny" fest, dass es Frauenfeindlichkeit durch alle Kulturen, Zeiten und Schichten hindurch gab. Er glaubt, Misogynie sei ein Versuch der Männer, ihre Abhängigkeit von Frauenkörpern loszuwerden.

Ich bleibe lieber bei meiner eigenen Deutung: Solange wir uns einer Kultur des Herrschaftswillens verschreiben, fürchtet sich ein Großteil der Männer vor den eigenen heimlichen Abhängigkeitswünschen und verwechselt Sensibilität mit Ohnmacht und Entmännlichung.

INTERVIEW: UTE SCHEUB

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