Kolume Einen Versuch legen: Kniebeugen vor Autokolonnen

Für viele Chinesen gehört sportliche Betätigung zum Alltag wie Tee oder Reis. Das ist doch erfreulich normal.

Im Zuge der Olympia-Vorbereitungen erfuhr man in den vergangenen Monaten viel Unerfreuliches über China. Von zerstörten Wohnvierteln über Kinderarbeit, Spielzeuggifte und Chemiemüll bis hin zur Todesstrafe für Delikte wie Handtaschenraub. Und in der Tibetkrise zeigt das autoritäre Regime seine hässliche Fratze. Nur hat man fast nichts darüber erfahren, was Sport eigentlich in dem Land bedeutet, in dem die nächsten Olympischen Spiele ausgetragen werden. Nachdem ich letztes Jahr in China war, scheint mir rückblickend, dass wir vom chinesischen Umgang mit den Leibesübungen etwas lernen könnten.

In China ist eine Trennung von öffentlicher und privater Sphäre längst nicht so ausgeprägt wie in Deutschland. Der öffentliche Raum fungiert als erweitertes Wohn-, Arbeits- oder Schlafzimmer, als Arztpraxis, Massage-, Friseursalon - oder als Turnhalle. Turngeräte stehen oft mitten in der Stadt herum, ganz normale Menschen in schwarzen Turnhosen und Rippunterhemden, nicht unbedingt schön, nicht unbedingt gertenschlank, machen unter freiem Himmel ungeniert ihre Übungen. Kniebeugen vor Autokolonnen, Klimmzüge hinter Bushaltestellen, Handstand neben dem Cola-Automat.

So wie in China viele Menschen Schlafpausen auf Autodächern, Treppenabsätzen oder auf Melonenbergen (auf Märkten) einlegen, so treibt man auch ohne Aufwand Sport. Die berühmten Tai-Chi-Gruppen, die morgens zu hunderten in den Parks schattenboxen (Peking ist entgegen allen Vorurteilen eine recht grüne Stadt), sind kein Klischee. Und natürlich ist Tischtennis, das in China Pingpang heißt, woraus sich, wie unschwer zu erkennen ist, der Name Pingpong abgeleitet hat, äußerst beliebt. Es kann tatsächlich als chinesischer Nationalsport gelten. Auf die Frage, warum Tischtennis so populär in China sei, gab mir ein Chinese eine sehr plausible Antwort: "Man braucht für dieses Spiel nicht viel Platz und keine komplizierte Ausrüstung. Man kann praktisch irgendwo eine Platte aufstellen, und schon geht es los!"

Während hierzulande Sport zunehmend zu einer aufwändigen, teuren Luxusfreizeitgestaltung verkommt - aus Wandern wurde Nordic Walking, aus Wassergymnastik Synchronised Swimming und Golfspielen bleibt Golfspielen und war schon immer eher Lebensgefühl als Körperertüchtigung - ist Sport in China eine vollkommen unprätentiöse Angelegenheit, die fast jedem zugänglich ist. Auch sehr arme Leute haben selbst gebastelte Tischtenniskellen, und für Tai-Chi braucht man gar nichts. Ausländer können sich problemlos den öffentlichen Tai-Chi- oder Tischtennisgruppen anschließen, man stellt sich einfach dazu und macht mit - schneller als in China hat man noch nirgendwo angefangen, Sport zu treiben.

Der gemeinschaftliche Aspekt steht meist im Vordergrund. So wie zwischen privater und öffentlicher Sphäre eine nur wenig scharfe Trennlinie verläuft, wird zwischen Einzelnem und Gruppe wenig unterschieden. Während Sport bei uns oft zur manisch betriebenen Solistennummer verkommt - 50 Menschen im Fitnessstudio, die sich nebeneinander abstrampeln, dabei fernsehen, Augenkontakt verstößt gegen die unausgesprochenen Regeln und wird sofort als Anbaggern interpretiert -, ist Individualsport, vor allem in seiner ambitionierten Selbstverwirklichungsvariante, in China noch immer eine Seltenheit.

Eine besonders populäre Sportart ist, man staunt, Tangotanzen. Auf vielen öffentlichen Plätzen wird - nicht zu argentinischen Klängen, sondern zu schriller chinesischer Popmusik aus klapprigen Gettoblastern - mit ernsten Minen Tango einstudiert. In unmittelbarer Nähe von fünfspurigen Megastraßen. In Hochhausschluchten. Vor überfüllten Bahnhöfen.

Ein bisschen von der Selbstverständlichkeit, mit der die Normalbevölkerung in China körperliche Ertüchtigungen wie Tee oder Reis in ihr Leben integriert hat, wünsche ich mir auch hier manchmal.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.