Debatte Bahnreform: Nun mal halblang

Die Deutsche Bahn hat in den letzten Jahren zu sehr auf Hochgeschwindigkeit gesetzt. Ihren Kunden kann es nur guttun, wenn im Zugverkehr bald mehr Konkurrenz herrscht.

Nach jahrelangem Gezerre scheint die Bahnreform endlich vollendet. Knapp ein Viertel der Aktien der Deutschen Bahn AG soll der Staat höchstens an private Investoren verkaufen dürfen. Das Schienennetz bleibt im öffentlichen Besitz, eine richtige Entscheidung. Damit ist die rein gewinnfixierte Börsenbahn noch nicht endgültig abgewendet. Ihre "Börsentauglichkeit" belastet den Konzern nun seit mehr als einem Jahrzehnt.

Von den beiden Kernfehlern der DB-Konzernpolitik ist der erste offensichtlich - die Ausdünnung des Netzes im Fernverkehr. Laut einem Gutachten der Verkehrsberatung kcw hat die Bahn seit 2000 insgesamt 23 Großstädte und Oberzentren "fernverkehrsfrei" gestellt. Schon bald werden mindestens 15 weitere Großstädte - Potsdam, Konstanz, Ludwigshafen - abgehängt. Insgesamt liegt die Verkehrsleistung der Bahn, also ihr Gesamtangebot auf dem deutschen Netz, heute unter der von 1994. Das Ergebnis: In den vergangenen sieben Jahren - seit dem Antritt von Hartmut Mehdorn - hat die Bahn fast 20 Prozent ihrer Fahrgäste im Fernverkehr verloren.

Was die Bahn nicht mehr anbietet, muss der Staat künftig bestellen, will er seine Bürger jenseits der Metropolen nicht vom Bahnnetz abkoppeln. 80 bis 150 Millionen Euro müssten die öffentlichen Haushalte jedes Jahr zusätzlich bereitstellen, um den heutigen Betrieb aufrechtzuerhalten. Angesichts dessen erscheinen die einmaligen Verkaufserlöse von 6 Milliarden, die durch die Teilprivatisierung zusammenkommen sollen, bereits in einem anderen Licht. "Gesundschrumpfen" mag betriebswirtschaftlich eine Option sein. Politisch wäre es, mit Blick auf den Klimawandel und die notwendige Verlagerung von Verkehr auf die Schiene, eine krasse Fehlentscheidung.

Der zweite Fehler ist der Drang der Bahn zum Tempo-Rekord. In 90 Minuten von Berlin nach Hamburg klingt gut, für die rund 250.000 möglichen Bahnkunden in Spandau und Nordwest-Berlin ist es aber mehr als ärgerlich, 30 Minuten extra für die Fahrt zum Hauptbahnhof einzuplanen, weil ebenjener Zug in Spandau - um 5 Minuten Fahrzeit des ICE einzusparen - nicht hält. Dies ist kein logistisches Einzelproblem - beim Bahnhof Zoo wird sogar für 1 Million Reisende die Fahrzeit länger -, sondern demonstriert, dass die Bahn zu sehr auf Punkt-zu-Punkt-Verbindungen setzt. In der Schweiz stecken die Eisenbahnplaner ihre Energie vor allem in vertaktete Fahrpläne und ziehen ihre Bürger damit in die Bahn. Die Eidgenossen fahren pro Kopf doppelt so viel Bahn wie die Deutschen.

Eine Umsteigesituation wie in Köln, wo der Thalys aus Paris über Brüssel einfährt, im selben Moment der Anschluss ins Ruhrgebiet, nach Hannover und Berlin - unerreichbar - am Nebengleis abfährt, stellt die Sinnhaftigkeit von Milliardeninvestionen in Frage, die den Hochgeschwindigkeitszug nach Köln 20 Minuten schneller gemacht haben. Für den Fahrgast zählt die Gesamtreisezeit - und im Zweifel sitzt er lieber in einem langsameren Zug, der einen perfekt abgestimmten Anschluss hat, als eine Stunde auf dem zugigen Kölner Hauptbahnhof.

Jenseits dessen muss sich die Bahn aber grundsätzlich die Frage nach der richtigen Geschwindigkeit stellen. Höchstgeschwindigkeit zahlt sich nur dann aus, wenn es gilt, weite Entfernungen ohne große Steigungen, scharfe Kurven und viele Haltepunkte zu überwinden. Die Topografie und die dichte Besiedelung der Bundesrepublik erlauben gerade das nicht. Doch weil die Bahn in den vergangenen Jahrzehnten auf Hochgeschwindigkeitszüge gesetzt hat, musste sie milliardenschwere Neubaustrecken bauen. Vergleicht man etwa die Zeitersparnis auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Nürnberg und München über Ingolstadt mit den Kosten, kommt man auf eine beeindruckende Gleichung: Eine Minute schneller kostet 100 Millionen Euro.

Zudem wachsen Geschwindigkeit und Zeitersparnis nicht proportional zueinander. Wird ein Eisenbahnzug von 100 auf 150 Stundenkilometer beschleunigt, beträgt der Zeitgewinn 20 Minuten pro 100 Kilometer, von 200 auf 250 km /h nur 6, von 300 auf 350 sogar nur noch 2 Minuten. Proportional ansteigend mit der Geschwindigkeit sind dagegen die Kosten für den Unterbau, die Fahrleitung, das Zugmaterial, den Lärmschutz und die Sicherheit - ganz zu schweigen vom in die Höhe schnellenden Energieverbrauch, der letztlich die Klimafreundlichkeit der Bahn in Frage stellt. Deshalb gibt es nicht nur eine technische, sondern auch eine finanzielle und klimapolitische Grenze bei der Höchstgeschwindigkeitsphilosophie.

Die Bahn ist ein Massenverkehrsmittel. Nach Untersuchungen der Deutschen Bahn wollen mehr als 90 Prozent ihrer Kunden ein attraktives Preis-Leistungs-Verhältnis und sind bereit, für einen geringeren Fahrpreis eine Fahrzeitverlängerung von wenigen Minuten in Kauf zu nehmen. Das ist kein Plädoyer für eine Rückkehr zum alten D-Zug. Eine lukrative Bahn muss aber endlich erkennen, dass intelligentes Planen und gezielter Mitteleinsatz viel mehr bringen als Milliardeninvestitionen in Einzelprojekte.

Wer jetzt reflexartig nach mehr Staat ruft, darf nicht vergessen, dass es ebenjener war, der fast in ganz Europa das umweltfreundliche Verkehrsmittel sträflich vernachlässigt und im Fahrgast bestenfalls einen "Beförderungsfall" gesehen hat. Die Mehdorn-Bahn auf der anderen Seite liefert Grund für Zweifel an der Börsenbahn - auch an der abgespeckten Version. Der Bahnchef hat die mangelnde Kundenorientierung der alten Bundesbahn mit dem Gewinnstreben eines Privatunternehmens kombiniert, das sich nicht ums Gemeinwohl schert.

Eine Bürgerbahn, die mehr als die Neuauflage der verschlafenen Staatsbetriebe sein soll, muss mit den Instrumenten des Marktes arbeiten. Sie wird nicht mehr die eine Bahn sein, die alles anbietet. Der französische - private - Anbieter Veolia hat mit seinen Strecken in Deutschland in Konkurrenz zur DB genau damit gepunktet, dass er sich ohne Geschwindigkeitssuperlative auf das Angebot in der Fläche konzentriert hat - und das zu moderaten Preisen. Auch im Nahverkehr haben private Bahnen gezeigt, dass exponentielle Zuwächse auf Strecken möglich sind, die die DB schon stilllegen wollte, wie etwa die Bahnverbindung von Kaarst über Düsseldorf nach Mettmann. Mit der DB waren dort vor zehn Jahren täglich nur 500 Passagiere unterwegs. Seitdem die Strecke - modernisiert und fahrgastgerecht ausgestaltet - privat betrieben wird, stiegen die Fahrgastzahlen innerhalb von acht Jahren auf knapp 20.000, das sind mehr als 3.700 Prozent.

Eines ist klar: Nur wenn der Staat Besitzer des Netzes bleibt und nach Gemeinwohl-Kriterien darüber entscheiden kann, welche Anbieter zum Zuge kommen, kann ein offener Eisenbahnmarkt funktionieren. Den Bahnfahrern in Deutschland wird es aber in jedem Fall guttun, nicht mehr von den Launen eines einzelnen Unternehmens abzuhängen.

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