Liberale Hochschulen in der Türkei: Die Freiheit des Geldes

In der Türkei sind kostspielige private Universitäten ein Hort der kritischen Wissenschaft. Die Sabanci University in Istanbul ist eine von ihnen.

Die Sabanci University befindetz sich kurz hinter der Stadtgrenze Istanbuls. Bild: ap

ISTANBUL taz Özden Sahin hat heute nur Marx im Kopf. 200 Seiten "Kapital" hat sie gewälzt und das "Kommunistische Manifest" analysiert. Die Studentin fährt zur Uni, der Sabanci University, kurz hinter der Stadtgrenze Istanbuls. Heute ist der Kommunismus zu Gast. Auf dem Lehrplan im Saal G43: Marx, Gramsci, Althusser. Özden Sahin wird heute die Klassenfrage in Hörsälen aus Marmor diskutieren. Laserbeamer, Flachbildschirme, Polstersessel gehören zum Inventar ihres Klassenraums. Privater als diese könnte eine Universität nicht sein.

Tosun Terzioglu blickt durch die breite Fensterfront seines Büros auf das stolze Eingangstor der Universität: Eine riesige Mauer, davor ein großer Wassergraben. "Diese Mauer gibt uns eine gewisse Freiheit", sagt Terzioglu. Er ist der Präsident der Sabanci-Universität. Gäbe es die Mauer nicht, hätten viele seiner ProfessorInnen ein Problem. "Ich bin kein Gedankenpolizist", sagt der Präsident der privaten Sabanci-Universität. Und dass er das sagt, ist keine Selbstverständlichkeit.

In der Türkei mangelt es nicht an offenen Denkverboten. Im Hörsaal G43 gibt Ayse Gül Altinay heute ihre Marx-Stunde. Seit sieben Jahren arbeitet sie zu Militarismus, Sexismus, Nationalismus. Sie hat über den Nationalismusmythos in der Türkei geforscht, hat unzählige Interviews geführt, hat junge türkische Männer zu ihrer Militärzeit befragt. Sie kratzt am patriarchalen Mythos einer militarisierten Nation. Auf unzähligen Demos stand sie in der ersten Reihe. In der breiten türkischen Öffentlichkeit kommt das nicht gut an - hier wird es bezahlt.

Als Altinay mit ihren feministischen Studien begann, wusste sie noch nicht, dass es für Frauen wie sie einmal Jobs geben würde. Heute bekommt sie ihr Gehalt von der Industriellenfamilie Sabanci, die sich seit 1996 diese Universität leistet. Das Sabanci-Imperium ist eine der größten türkischen Holdings. 70 Unternehmen gehören zum Konzern, 52.000 Angestellte arbeiten für die Holding. Als die eigene Privatuniversität in den 90er-Jahren zum Mode-Muss bei den türkischen Superreichen wurde, adelten sich auch die Sabancis mit einer. Jährlich stecken sie seitdem Millionen in die Hochschule. Und ihre Hochschule gilt als eine der liberalsten und progressivsten in der Türkei. "Das", sagt Altinay, "verdanken wir der Tatsache, dass wir privat finanziert werden."

Kritische Wissenschaft an der Privatuni? Für die klassische Linke in Deutschland ist das unvorstellbar. In einem Land aber, das Vaterlandsliebe und Personenkult zur ersten Bürgerpflicht erklärt, kann das ganz anders sein. Wer sich der "Beleidigung des Türkentums" schuldig macht, kann - auch nach der Liberalisierung des einschlägigen Paragrafen - mit bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe belegt werden. Wer öffentlich über den Staatsgründer Atatürk schimpft oder über den international anerkannten Genozid an der armenischen Bevölkerung spricht, macht sich angreifbar. Das gilt auch für Wissenschaftler.

Als 2005 Forscher der staatlichen Bosporus-Universität über den Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern zwischen 1915 und 1923 im Osmanischen Reich reden wollten, zeigte sich, welche Lobby die Wissenschaftsfreiheit in der Türkei hat: Zweimal hatte die staatliche Uni eingeladen, zweimal musste sie wieder ausladen - auf öffentlichen Druck und ministeriale Intervention hin. Erst als die private Bilgi-Universität in die Bresche sprang, konnte die Konferenz doch noch stattfinden.

Einige der MitorganisatorInnen der Armenien-Konferenz lehren an der Sabanci-Universität. Als sie im Vorfeld der Konferenz begannen, öffentlich über den Kollektivmord an den Armeniern zu sprechen, kochte die Stimmung in der Türkei über. Und bei Tosun Terzioglu, dem Unipräsidenten, standen die Telefonleitungen nicht mehr still. Unter den erregten Anrufern: ein türkischer Diplomat, der ihm dringend riet, "für Ruhe zu sorgen". Da saß Terzioglu in diesem Sessel, in dem er heute sitzt, mit Blick auf die Mauer - und sagte: "Bei uns herrscht Freiheit, und sie zu garantieren ist meine einzige Pflicht."

Was so normal erklingt, ist längst nicht überall normal. Die Sabanci-Universität ist die erste landesweit, die eine "Erklärung für die Wissenschaftsfreiheit" beschlossen hat - unter Mitwirkung von ForscherInnen und Studierenden. Die sollen die Angst verlieren vor den Denkverboten im Land. "Wir haben uns damit selbst eine Macht verliehen", sagt Terzioglu heute. Seit es das Statement gibt, kann er als Präsident immer darauf verweisen. "Und so mutig ist dann doch niemand, offiziell Hand an die Wissenschaftsfreiheit zu legen."

Als das Dokument 2002 verabschiedet wurde, hoffte die Uni, eine Vorreiterfunktion zu übernehmen. Doch es blieb dabei: Noch immer ist sie die einzige Uni landesweit, die ein solches Dokument verabschiedet hat. "Das sagt etwas aus über die politische Stimmung in diesem Land", sagt Ayse Gül Altinay.

Neben der Deklaration zur Wissenschaftsfreiheit gibt es eine zur offiziellen "Ächtung jedweder sexuellen Belästigung" - auch das einzigartig in der Türkei. Ayse Gül Altinay hat sie mitverfasst: Sie "und viele, viele Studierende". Sie betont: "Diese Erklärung entsprang dem Engagement von schwul-lesbischen Gruppen an unserer Uni."

Schwul-lesbische Gruppen haben in der Türkei sonst gar nichts zu melden. Dass sie hier mitreden dürfen, ist Ausdruck einer Auflehnung, der Auflehnung des Kapitals gegen die Autorität.

"Diese Uni steht für das Liberale", sagt Özden Sahin. "Und damit steht das Liberale für die Sabanci-Familie." Wenn sie "Familie" sagt, meint sie nicht nur Familie. Sie meint die Unternehmen, die zur Sabanci-Familie gehören, sie meint eine Produktmaschine mit Jahresumsätzen von über 10 Milliarden Dollar. "Diese Freiheit ist auch ein Produkt der Familie."

Tosun Terzioglu ist der Hüter dieser Freiheit. Doch auch er untersteht dem Nationalen Hochschulrat. "Das ist eine Verwaltungsstruktur, die noch aus Zeiten der Militärdiktatur stammt - und von einem autoritären Staatsverständnis geprägt ist", sagt er. Als beim Militärputsch 1981 die Generäle die Macht in der Türkei übernahmen, wurden massenhaft kritische WissenschaftlerInnen entlassen. Der Hochschulrat wurde berufen, seine Regelungen gelten bis heute. Noch immer arbeiten viele der ForscherInnen, die damals ins wissenschaftliche Exil gingen, bevorzugt im Ausland.

Unipräsident Terzioglu sagt: "Meine Pflicht wäre es eigentlich, all meine Studierenden zu Studierenden im Sinne des Staatsgründers Atatürk zu erziehen, zu nationalen Subjekten mit patriotischem Bewusstsein. So sieht es das Gesetz vor." Aber kontrolliert und bestimmt der Nationale Hochschulrat nicht die Uni? "Unsere Strukturen werden kontrolliert, aber nicht unser Budget", sagt Terzioglu. Jetzt lacht er. Wer ihn so sieht, spürt: Genau das macht den Unterschied. Diese finanzielle Autonomie ermöglicht es den privaten Universitäten auch, Lehrveranstaltungen anzubieten, die bei der staatlichen Konkurrenz nicht erwünscht sind.

Ein Großteil der Lehrenden an seiner Uni hat internationale Lehrerfahrung, meist kommen die Profs direkt aus den USA, von der Columbia, aus Harvard und Berkley. Sie haben den Ruf, Sabanci das Geld, ihn zu bezahlen. Und wer auf dem Campus hinter der Mauer an der Stadtgrenze Istanbuls ankommt, landet in einer Enklave des US-amerikanischen Traums: Ein Modell, das von der Freiheit des Geldes gebaut ist. Die Uni ist gegossen aus Sabanci-Beton, die Shuttle-Busse sind Sabanci-Fabrikate. Kein Shop auf dem Campus gehört nicht zu Sabanci-Familie. Wer hier studiert, hat mit höchster Wahrscheinlichkeit reiche Eltern. 12.000 Euro kostet das Studium pro Jahr. Zwar erhält ein Drittel der Studierenden ein leistungsbezogenes Studienstipendium des Konzerns, doch wer einmal eine Familie auf dem Lande besucht hat, weiß: Die Leistung zu erbringen, die für ein solches Stipendium notwendig ist, ist nur für die Kinder der Oberschichten ein Zuckerschlecken.

Am Mensaeingang hängt ein großes Poster. "Try it the DANONE-way of life", steht darauf. 200 Meter weiter lehrt ein Manager, der vom Nahrungsmittelgiganten Unilever bezahlt wird. In Hörsaal G43 beginnt die Marx-Stunde von Özden Sahin. Hinter der großen Mauer am Stadtrand von Istanbul herrscht die Freiheit der Andersdenkenden. Und heute ist der Kommunismus zu Gast.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.