Der neueste Hype in der Popwelt: London liegt in den Tropen

Hybrider gehts nimmer: "Tropical" heißt das gegenwärtig avancierteste Genre, das von der britischen Hauptstadt aus gerade die Popwelt begeistert.

Indischstämmig und vom Reggae-Virus der jamaikanischen Nachbarschaft in Großbritannien infiziert: Swami. Bild: promo

Am Ufer der Themse zeichnet sich die Gestalt eines schwarzen Jugendlichen mit einer Waffe im Anschlag ab. Jeder, der derzeit über die Millennium Bridge zur Tate Gallery of Modern Art spaziert, wird von ihr ins Visier genommen. Die riesige Fotografie hat der Pariser Street-Art-Künstler JR auf die 35 Meter hohe Backsteinfassade des Londoner Museums plakatiert. Doch bei näherer Betrachtung entpuppt sich die Waffe als Videokamera. Der erste bedrohliche Eindruck wird als Umkehrung des rassistischen Überwachungsregimes zum Betrachter zurückgeworfen. Von der Tate bis zur Tube durchziehen kulturelle Schnittstellen die britische Metropole und erstrecken sich weiter in die pulsierenden Viertel des Vielvölkergeflechts von London hinein.

Etwas außerhalb, im Osten Londons, auf dem Straßenmarkt von Hackney schieben sich hunderte von Menschen durch die staubigen Wege. Ein ghanaischer Händler verkauft Getreide und Knollenfrüchte, daneben bietet ein vietnamesisches Paar ein Sammelsurium an Elektronikwaren an, und der türkische Metzger preist das frisch geschlachtete Lamm. In dem babylonischen Sprachgewirr vergisst man fast, dass man sich in London befindet, nur ein paar Busstationen vom hektischen Treiben der Shoppingmeilen entfernt. Alles läuft hier einen Gang gemächlicher ab, in der Luft liegt ein scharfer Geruch, der Nieselregen könnte ebenso gut ein verirrter Minimonsun sein.

"Tropisch" nennt Alexander Holmes die Atmosphäre und genießt das kleinteilige Nebeneinander auf dem Ridley Market. Vor ein paar Monaten hat der britische Musiker Berlin verlassen und ist nach fünf Jahren in Wedding wieder in sein Heimatviertel zurückgekehrt. Hackney ist gerade angesagt, die Mieten sind hier noch relativ billig. Labour am Ende, der neue konservative Bürgermeister Boris Johnson, russische Milliardäre oder Olympia 2012? Man bekommt hier wenig mit von den Großprojekten und dem Machtgebaren im Zentrum. Das Viertel hat seinen eigenen Rhythmus - und seine eigenen Probleme. Entgegen den Schlagzeilen aber findet Holmes, dass die Gegend ein wenig sicherer geworden ist, Gentrifizierung sei Dank. Und die zugezogenen Künstler, Musiker und Studenten wissen den Freiraum zu schätzen. Wie schon so oft fallen dabei die reaktionären Tendenzen in der Politik mit einer Blütezeit an den subkulturellen Rändern zusammen. Und momentan brodelt es im Laboratorium London.

Als "Tropical" bezeichnet Holmes auch das neue "London Sumtin ", das noch nicht recht bezeichnete Londoner Musikprojekt, dem er angehört. Zumindest ist Tropical die naheliegendste Genrebezeichnung, die MySpace anbietet, um die urbane Mischung aus World Music, Soundsystemkultur und Clubtracks zu benennen - und MySpace formt die Wahrnehmung von Musik mittlerweile nun einmal mehr als jedes andere Medium. Seit dem Erfolg der indisch-britischen Sängerin M.I.A. gehen aus dieser losen Szene spannende Impulse für eine Popkultur aus, die in den letzten Jahren in inzestuösen Post-Irgendwas-Verfeinerungen von und für weiße Jungs erstarrt ist. Von unten greift sie nun die vielstimmige und durchlässige Dynamik der globalen Popmusiken auf - mehr Bruce Lee als Peter Gabriel. Die amerikanischen Tropicalisten haben sich um die New Yorker DJ Rupture und Diplo versammelt und mit Santogold ihren ersten, ebenfalls weiblichen Star hervorgebracht. Von Berlin aus greifen die Sick Girls und DJ Daniel Haaksmann die Dance Music aus den Favelas von Brasilien und anderen Gettos unterhalb des Äquators auf. Und erste Technostücke mit traditionellen afrikanischen Griots tauchen aus Paris auf.

Doch von London aus setzt diese Bewegung die meisten Impulse und übernimmt nun auch die Clubszene. Das Produzenten- und DJ-Team Radioclit, bestehend aus dem Franzosen Etienne Tron und dem Schweden Johan Karlberg, ist das Aushängeschild des tropischen Londons. Ihre Partyreihe "Secousse" im Notting Hill Arts Club bringt Hipster mit Teilen der afrikanischen Communities zusammen. Der Raum ist in sattem Grün dekoriert, Dschungelklänge eröffnen den frischen Mix aus angolanischem Kuduro, brasilianischem Baile Funk, Coupé Décalé von der Elfenbeinküste und zügellosen House-Spielarten. Dabei begleitet sie der Sänger Esau Mwamwaya aus Malawi am DJ-Pult, als ob er gerade auf dem Gipfel des Kilimandscharo stehen würde. Für ihn haben Radioclit gerade ein ganzes Album produziert. Manche sagen, er lächele wie Youssou NDour und könne zum afrikanischen Phil Collins werden.

Bescheidener geht es bei Alexander Holmes zu, obwohl er schon einen Adelstitel inne hat: "The King of the New Electric Hi-Life". Damit markiert A. J. Holmes die Herrschaft über den selbst erfundenen Hybrid aus elektronischem Lo-Fi-Pop und westafrikanischem Hi-Life. Aufgewachsen ist der weiße Brite im afrikanisch geprägten Teil Ostlondons. Hier hat er gelernt, die Gitarre im Landesstil Malis zu spielen. Von daher habe Hi-Life-Musik nichts Exotisches für ihn, meint Holmes beim ghanaischen Essen. Wenn überhaupt wirkt Holmes selbst ein wenig exotisch in dem afrikanischen Lokal am Rande des Markts.

Die umgekehrte Kolonisation durch karibische Einwanderer und ihre Musik hat gerade das Soul Jazz Label auf der Compilation "An England Story" dokumentiert. Das Album wird von YT eröffnet, sprich: Whitey, ein weißer Reggaesänger. Das jüngste Kapitel in der postkolonialen Geschichte Englands handelt also von einer erneuten Umkehrung, in der die Hautfarben verwischen. Ganz selbstverständlich eignen sich auch Holmes und Radioclit afrikanische Musikkulturen an, weil sie zu ihrem Alltag gehören. Ähnlich unbefangen verwendet der Dubstep-Produzent Shackleton Spuren arabesker Volksmusiken in seinen apokalyptisch perkussiven Subbass-Tracks. Zu seinen Vorbildern zählt er den türkischen Sazspieler Erkan Ogur und den pakistanischen Weltstar Nusrat Fateh Ali Khan. Und auch der afrobritische Dubstepper Benga muss keine indischen Vorfahren haben, damit seine Tabla-Exkurse überzeugen.

Waren Entwürfe einer transkulturellen Musik in den Neunzigern vom Community-Gedanken geprägt, geht es nun nicht mehr um ethnische Authentizität. Multiethnizität ist längst ein normaler und grundlegender Bestandteil der britischen Gesellschaft geworden. Befreit von national kodierten Verbindlichkeiten lassen die neuen Sounds von London auch miefige Klischees aus Patchoulidüften und Bongotrommeln hinter sich, die an dem unglücklichen Begriff World Music hängen. Seit seiner Erfindung - in London übrigens - homogenisiert und exotisiert das Genre verschiedenste lokale Stile. Da klingt Tropical doch gleich spritziger und hip wie spezialangefertigte Sneakermodelle.

Über solche Stilgeburten kann Alan Scholefield von Honest Jons nur müde lächeln. Seit Jahrzehnten widmet sich seine Institution aus Plattenladen und Label auf der Portobello Road den Immigrantenkulturen. Hinter der Ladentheke sind die neuesten Labelcompilations aufgereiht: der Remix-Sampler "Lagos Shake", auf dem House-Helden wie Carl Craig Stücke der Afrobeat-Ikone Tony Allen bearbeitet haben, und "Living is Hard", eine historische Sammlung westafrikanischer Musik aus England zwischen 1927 und 1929.

Afrika bildet den Fixstern von Tropical, doch auch die Karibik und Indien sind nach wie vor sehr präsent in der Musiklandschaft Londons. So verkörpert das Popduo Mattafix die beiden Pole des kolonialen Erbes: Indien und die West Indies, also die karibischen Inseln, von denen Kolumbus dachte, sie lägen auf der anderen Seite der Welt. Der Sänger Marlon Roudette stammt von den Grenadinen, sein Partner und Produzent Preetesh Hirji ist ein Londoner indischer Abstammung. Die urbane Hymne "Big City Life" machte Mattafix vor drei Jahren in ganz Europa bekannt und zu Popstars des multikulturellen Englands. Mit der Bhangra-Szene oder der Asian Dub Foundation aber verbinde ihn allenfalls die Hautfarbe, meint Hirji. Dennoch kommen auf ihrer neuen Single "Things Have Changed" neben schweren Hiphop-Beats, drückenden Reggae-Bässen und Calypso-Elementen auch wunderbar elegische Bollywoodstreicher zum Einsatz.

Dagegen fühlt sich Diamond Duggal von der Gruppe Swami noch tief in der indischen Community verwurzelt. So erzählt der indisch-britische DJ und Produzent mit Stolz davon, wie sich die indischen Einwanderer in England hochgearbeitet haben. Heute verrichten polnische Arbeiter die schlecht bezahlten Jobs. Auch Duggal ist ein Produkt des hybriden Englands: Als Jugendlicher wurde er in Birmingham vom Reggaevirus aus der jamaikanischen Nachbarschaft infiziert. Mit seinem Cousin Apache Indian erfand er das indisch-karibische Mischgenre Bhangramuffin. Mittlerweile hat er Popgrößen wie Shania Twain und Erasure produziert. Der Name seiner Band steht für "So Who Am I". Identitätsfragen werden dabei im Clash der Stile zum Tanzen gebracht: Bhangra aus dem Punjab trifft auf den Nachlass von Kraftwerk, Bronx-Hiphop auf Drum and Bass aus Brixton. Duggal träumt von einer Identität, die alle repräsentiert, indem sie sich das Beste aus jeder Kultur nimmt. Und nirgends ist diese Utopie gerade so greifbar wie in London.

Am 22. Juni spielen die Bands Mattafix, Swami, Oi Va Voi, Ska Cubano und das Soul Jazz Sound System beim Funkhaus Europa Summerstage Festival in Köln, Tanzbrunnen. Das Motto lautet: "London Crossing"

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