Verschiedene Referenzmodelle: Der Umweg über China

China erscheint dem Westen so fremd, weil er seine eigene Klugheitslehre vergessen hat. Schuld daran ist das Alphabet.

Chinesische und westliche Schriftzeichen. Nicht immer geht da alles glatt. Bild: ap

Sollte das Alphabet den Unterschied ums Ganze definieren? In vielen Hinsichten ähneln sich die chinesische und die griechische Weisheitslehre, wie sie François Jullien in seinem Essay "Über die Wirksamkeit" (Merve, Berlin 1999) unterscheidet und vergleicht. Aber vor die Wahl gestellt, ein entweder situatives oder ein teleologisches Handlungsmodell zu pflegen, entscheiden sich die Griechen für das teleologische. Das teleologische Modell misst das Handeln an den Zielen, das es sich setzt, mit entsprechend großen Chancen, ein Situationspotenzial zu übersehen, das sich für alternative Ziele und alternative Handlungen hätte nutzen lassen. Das situative Modell schaut von vorneherein auf die Situation und ihr Potenzial und lässt sich nur daran messen, ob Chancen, der Situation eine andere Wendung zu geben, gesehen wurden oder nicht.

UNSERE TELEOLOGEN:

Aristoteles ist der erste große abendländische Denker der Teleologie. Er erblickte auch in der Natur zweckgerichtete Prozesse.

Hegel ist in der Neuzeit der Mann, der nicht nur in der Natur, sondern auch in der Geschichte das Wirken einer zielgerichteten Zweckmäßigkeit am Werke sah.

UNSERE SITUATIONISTEN:

Charles Darwin führte das teleologische Denken des Westens in die Krise: Die Natur folgt keinem Plan!

Carl Schmitt definierte Souveränität über die Situation der Entscheidung (auch: Dezisionismus), weil jemand souverän nur sei, wer über den Ausnahmezustand verfüge.

Die Situationisten entwickelten gar ein Konzept der "theoretischen und praktischen Herstellung von Situationen", in denen das Leben jenseits der Lohnarbeit selbst zum Kunstwerk werden sollte.

Die beiden Modelle unterscheiden sich im Akzent, den sie setzen. Das teleologische Modell hält die Situation latent, in der es zu verschiedenen Zielsetzungen kommt. Es zieht die Aufmerksamkeit von der Gegenwart ab und richtet sie auf eine Zukunft, in der es bestimmte Ziele zu erreichen gilt, und auf eine Vergangenheit, die es erlaubt, diese Zielsetzungen zu motivieren und zu rechtfertigen. Das situative Modell hingegen hält die Zielsetzungen latent. Dass und was jemand in bestimmten Situationen erreichen will, versteht sich entweder von selbst oder ergibt sich als Überraschung im Nachhinein. Dann jedoch als eine Überraschung, die nicht überrascht, sondern die gegebenen Verhältnisse und die darin motivierten Zielsetzungen, einen Krieg zu gewinnen, einen Fürsten zu überzeugen, eine Ehefrau zu finden oder was immer, bestätigt.

Es ist wichtig zu sehen, dass es sowohl in China wie in Griechenland beide Modelle gibt. Wir haben es daher nicht mit verschiedenen Welten zu tun, sondern mit verschiedenen Akzentsetzungen. Wir haben es auch nicht mit der Unmöglichkeit zu tun, sich wechselseitig zu verstehen, sondern mit der Notwendigkeit, die jeweils eigene Präferenz für das entweder situative oder teleologische Modell als eine Präferenz innerhalb derselben Alternative zu erkennen. Das situative Modell pflegten die Griechen unter dem Stichwort der metis, der listenreichen und wachsamen Klugheit. Von ihr wissen die Männer der Tat, während die Männer des Wissens die Idee des telos pflegen, des Zieles, an dem ein Handeln sich spätestens dann messen lassen muss, wenn es in der Akademie diskutiert wird. Und niemand wird den chinesischen Weisen ihre Teleologie absprechen. Der Weise wie der Fürst, den er berät, wissen sehr wohl, was sie erreichen wollen und was sie verhindern müssen. Aber ihr Verhalten orientiert sich situativ an Klugheitsregeln, nicht an Rechtfertigungsmustern. Sie handeln nicht, sondern sie agieren, wenn man unter einer Handlung den Versuch versteht, anschließend in einer anderen Situation zu sein, und unter einer Aktion den Versuch, erst einmal herauszufinden, in welcher Situation man steckt, sei es nun, dass man nach Möglichkeiten sucht, auf das eigene Mitspielen aufmerksam zu machen, sei es, dass man versucht, herauszufinden, wer die anderen Mitspieler sind und in welcher Haut sie stecken.

Die Griechen jedoch haben es nicht mit Situationen, sondern mit Handlungen zu tun. Sie agieren nicht, sondern sie handeln, und dies entweder tragisch oder komisch, entweder heroisch oder, als Entlastungskategorie für alle anderen, alltäglich. In jedem Fall jedoch haben sie es mit einem Drama zu tun und damit auch mit einer Geschichte, die sich zwar im Kosmos als ewige Wiederkehr des Gleichen abspielt, auf Erden jedoch als durchaus schicksalsreiches Geschehen unter Menschen. Eine Klugheit gibt es nur im Rahmen der Geschichte. Sie wird auch nur dort, am Hofe, reflektiert (etwa von Machiavelli oder von Baltasar Graciàn), wo sich die Entscheidungen vorbereiten, die dann entweder den Erfolg oder den Untergang nach sich ziehen. Sie wird durch die Geschichte gerahmt, nicht umgekehrt. In China hingegen rahmt die Klugheit jede mögliche Geschichte, die deswegen letztlich auch nicht stattfindet. In China dominiert die Wiederkehr des Gleichen, auch wenn es mal die einen, mal die anderen erfolgreicher werden lässt und mal die einen, mal die anderen in den Untergang reißt.

Beide Gesellschaften, die chinesische wie die griechische, sind Schriftgesellschaften. Beide haben die Einführung der Sprache und damit die Dynamik der Stammesgesellschaft hinter sich und die Einführung des Buchdrucks und damit die Dynamik der modernen Gesellschaft noch vor sich.

Im Unterschied zu den Piktogrammen der Chinesen ist die Schrift der Griechen alphabetisch. An die Stelle eines kosmologischen Denkens im Kontext mystischer und mythologisierbarer Ursprünge, das die Piktogramme zunächst nur unterstützen, tritt ein analytisches Denken. An der Möglichkeit der Zergliederung und des Zerfalls lernt dieses Denken den zunächst ungesicherten Zusammenhang der Dinge zu studieren. Im qualitativen Sprung vom Bild zum Laut und dessen Fixierung steckt die Entdeckung des Unterschieds, den ein Moment, kairós, jetzt machen kann. In der alphabetischen Schrift wird das vorübergehende, das auftauchende und wieder verschwindende Wort angehalten. An dieser Differenz werden Zeitfluss und Ereignis unterscheidbar. Man hat es nicht nur mit Bildern zu tun, die in ihrer situativen Verwendung kontrolliert werden müssen, sondern mit einem Alphabet, das kontingent werden lässt, wie es weitergeht.

Die Chinesen fügen ihre Piktogramme in ein Referenzmodell der mündlichen Sprache ein. Das erlaubt es ihnen, an den bewährten Formen des Respekts vor Grenzen und der Faszination von Geheimnissen festzuhalten, als mache die Einführung der Schrift keinen Unterschied zur Stammesgesellschaft. Die Griechen revolutionieren hingegen ihr Weltmodell und beginnen ein Abenteuer der Geschichte, das wohl nur unzulänglich auf den Begriff des Schicksals gebracht werden kann. Wie die Ägypter, die Platon und Aristoteles abschreckend vor Augen hatten, werden auch die Chinesen Bürokraten. Hieroglyphen wie Piktogramme erlauben es offenbar, die Ritualgemeinschaften der Stammesgesellschaft mit wesentlich größerer Reichweite als je zuvor zu reproduzieren und zu formalisieren. Die Griechen dagegen gehen das Risiko ein, dass Handel, Politik, Kunst und Wissenschaft die Skalen der Bürokraten durcheinanderbringen und mit innovativen Ideen die Verhältnisse neu sortieren.

Man wird dieses teleologische Modell später auch das "rationale" Handlungsmodell nennen. Und man wird daran festhalten, dass es für die Deklaration von Normen so viel Platz hat wie für die ebenso kluge wie prozessuale und damit situationsabhängige Neubestimmung des Verhältnisses von Mittel und Zweck. In der losen Kopplung zwischen den deklarierten, gleichsam global legitimierbaren Handlungen einerseits und dem geschickten, lokal angemessenen Agieren andererseits hat dieses griechische und inzwischen westliche Handlungsmodell seine eigentliche Pointe. Und in dieser Form haben es die Chinesen nicht nur längst übernommen, sondern immer schon verfolgt.

Auf dem Umweg über China entdeckt der Westen seine eigenen Klugheitslehren. Und er entdeckt die möglicherweise dramatische Rolle einer alphabetisierten Schrift. Sie ermöglicht erst den analytischen, sie auflösenden und nur mit Müh und Not wieder zusammensetzenden Zugriff auf die Welt. Geschult durch die sozialen und ökologischen Desaster unserer Gesellschaft, feiern wir diesen heute aber nicht mehr nur als rational, sondern beobachten ihn auch als potenziell katastrophal.

Dirk Baecker ist Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University, Friedrichshafen. Sein Text ist in einer längeren Fassung zuerst hier erschienen: Dirk Baecker, François Jullien, Philippe Jousset, Wolfgang Kubin und Peter Pörtner: "Kontroverse über China: Sino-Philosophie", Merve Verlag, Berlin 2008.

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