Schlag in den Magen

FOTOGRAFIE Die eklige Wiederkehr des Gleichen: In Berlin ist der großartige Zyklus „Lebensmittel“ von Michael Schmidt zu sehen

Wie ein Soundtüftler sampelt er Wirklichkeitsschnipsel und setzt sie anschließend neu zusammen

VON RALF HANSELLE

Es gibt ein altes Bonmot von Bert Brecht: „Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“ Der Dichter hatte wohl recht.

Zwar war sein Satz zunächst nur auf die neu-sachliche Fotografie von Alfred Renger-Patzsch zugeschnitten; er hat aber auch noch heute Gewicht. Denn die Wiedergabe von Realität verrät über die tatsächliche Lage noch immer recht wenig. Was wüsste etwa eine Fotografie der Herta-Werke über den Zustand von Würstchen? In der Regel muss man hier erst kosten, schmecken und wieder verdauen. Erst dann kann man sich wirklich ein Urteil erlauben.

Oder man macht Fotos wie Michael Schmidt. Der hat sich vier Jahre lang in Backfabriken, Fischfarmen und Milchverarbeitungsbetrieben umgesehen und hat dort Kühe, Eier und Gurken belichtet. Er war in dem Land, wo wir Zitronen züchten; in der Stadt, wo wir die Schweine verwursten. Und die Fotos, die der 67-Jährige von dort mitgebracht hat, die verraten weit mehr über die Produktion unserer Nahrung als der Geschmack jeder fettäugigen Mortadella.

Denn Schmidt zeigt keine funktionalen Fabriken und auch nicht das Leiden der Legehennen. Er zeigt den ganzen Sound einer verkommenen Esskultur; die Kakophonie des schalen Geschmacks. 177 Fotos sind auf seiner Reise entstanden: große und etwas kleinere; farbige und schwarzweiße; Panoramen und einzelne Stillleben. Manche erinnern an Magazin-Reportagen, andere an Nature Mortes.

Jetzt sind diese Bilder im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen, mal zu Paaren auf einzelne Wände drapiert; mal zu Reihen oder Gruppen verdichtet. Es sind Bilder voller Nüchternheit; voller Härte und Klarheit. Jedes einzelne noch recht gewöhnlich; in der Summe aber wie ein Schlag in die Magengrube. Die Summe ist es, die bei Schmidt zählt: das Arrangement, das Gefüge, die Installation an der Museumswand. Bereits mit früheren Arbeiten hat der Berliner bewiesen, welch bewegendes Potenzial in einem technischen Bild steckt, verdichtet man es zu einem großen Gewebe. Denn Michael Schmidt baut nie auf die Aussagen einzelner Fotos; er sucht seine Wahrheit in der Summe der Teile.

Wie ein Soundtüftler sampelt er Wirklichkeitsschnipsel und setzt sie anschließend neu zusammen. So entstehen am Ende fotografische Fugen; Klangbilder für das musikalische Auge. Bewegt man sich an diesen Bildern der neuen Serie „Lebensmittel“ entlang, so begibt man sich in einen Flow von Zeichen. In Themen und in Variationen; in Umkehrungen und Modulationen.

Eine blass-rosafarbene Gesichtswurst etwa, deren synthetische Fratze eben noch Kopf stand, dreht sich an anderer Stelle vom Kopf auf die Füße; ein fades Kotelett in Plastikverpackung erscheint ein weiteres Mal mit etwas mehr Fett. Es ist die eklige Wiederkehr des Gleichen. Die Taktung eines faden Geschmacks.

Dabei erscheinen alle Bilder kommentarlos. Ob Eierschalen oder Euter: nie erfährt man etwas über den Aufnahmeort, nie gibt es erklärende Textpassagen. Jedes Bild spricht eben nur für sich selbst; und zusammen sprechen sie für uns alle. Sie erzählen von der großen Verachtung, die wir unserer Nahrung und unseren Naturräumen entgegenbringen. Doch es ist eine Erzählung ohne Moral; ein Klang ohne jegliche Klage. Auf diese Weise versucht Michael Schmidt ein altes Dilemma der Dokumentarfotografie zu umgehen: Der Fotograf wird hier nicht zum Objektivierer von Wirklichkeiten; vielmehr zieht er sich Stück für Stück aus seinen Bildern zurück.

Schmidts Serien machen den Betrachter zum Co-Künstler. „Ein Foto und noch ein Foto sind bei mir drei Fotos“, lautet hier das ästhetische Credo. Irgendwann soll der Sound selbst die Regie übernehmen. Aus der Kombination der realen Bilder an der Wand sollen weitere, imaginierte Bilder entstehen. Bilder, die faktisch nicht präsent sind.

Das hat bei der Anfang der 90er-Jahre entstandenen Serie „Ein-Heit“ noch bestens geklappt. Sehr unterschiedlich waren damals die verwendeten Stile, Sujets und Inhalte. Der Rhythmus der Mortadella und Mettwürste aber braucht etwas länger, um richtig zu zünden. Dann aber rutscht, um auf Brecht zurückzukommen, die Realität unverdaut durch den Kopf in den Magen.

■ Michael Schmidt: „Lebensmittel“. Martin-Gropius-Bau, Berlin, bis 1. April