Filmfestival in Südkorea: Beobachtung statt Inszenierung

Wo Gesellschaften sich mit rasender Geschwindigkeit wandeln, hat das Kino eine therapeutische Funktion - es hilft bei der Selbstsuche. Eindrücke vom Filmfestival im südkoreanischen Busan.

Director Kim Jae-woon und die Schauspieler Jung Woo-sung, Lee Byung-hun and Song Kang-ho werben für ihren Film "The Good, The Bad and The Weir". Bild: ap

Der rote Teppich ist das Heiligtum eines jeden Festivals, der Gralsort, vorbehalten für die Großen der Großen. Im südkoreanischen Busan ist er sogar noch ein wenig länger, aber auch demokratischer ausgelegt als anderswo. Jeder Festivalgast erhält eine Einladung zur feierlichen Eröffnung, und manchmal nimmt sein Gesicht die purpurne Farbe des Stoffes an. Trifft er doch auf eine grenzenlose Kreischbereitschaft, auf Tausende von Teenies in Schuluniformen, die mit ohrenbetäubenden Quietschchören die einheimische Prominenz wie auch die aus der Ferne angereisten Fachbesucher empfangen. Man muss ihnen nur ein bisschen zuwinken, und schon gehts los.

Sind Festivals nicht ohnehin seltsame Orte? Eigene Universen, in denen man für einige Tage nichts anderes zu tun braucht als Filme, Stars und Sternchen anzuschauen und im Trubel Halt bei der Bezugsgruppe zu suchen. Umschlossen von der eigenen Welt flutscht man durch Parallelwelten.

In Busan verhält es sich noch ein wenig anders. Mittlerweile gilt das Festival in der südkoreanischen Hafenstadt zwar als das wichtigste seiner Art in Asien, doch sind die Grenzen hier noch etwas durchlässiger. Hier gehen alle ins selbe Kino, besuchen dieselben Empfänge und landen nach dem Abendessen in derselben Karaoke-Bar. Nebenbei können sich Journalisten, Regisseure, Produzenten und Filmeinkäufer gegenseitig bei der Arbeit beobachten. Oder beim Geldauftreiben.

Kitz Tan aus Malaysia etwa wünscht sich nichts sehnlicher, als eines Tages ein gefeierter Regisseur zu sein. Es hat etwas Rührendes, wie er mit höflicher Verbeugung auf Partys oder vor den Kinos kunstvoll gefaltete Briefchen mit der Synopsis seines Spielfilmprojekts verteilt: "Destinys child" - Inspired by a True Story." Schnell kommt man mit ihm ins Gespräch. Man erfährt, dass sich Kitz Tan mit Gelegenheitsjobs als Kamera- oder Schnittassistent bei Werbefilmen über Wasser hält. Und dass er das Geld für Flug, Unterkunft und ein neues Jackett beim Onkel geliehen habe. Auf Anfrage erhält man ein ausführliches Treatment seines Drehbuchs einschließlich Finanzierungsplan. Rund 1,5 Millionen Dollar soll die nach dem Zweiten Weltkrieg spielende Geschichte um das harte Los chinesischer Emigranten in Südmalaysia kosten. Keine kleine Summe in einer Region, in der es erst seit wenigen Jahren aufgrund der digitalen Technik so etwas wie eine aufkeimende Filmindustrie gibt.

Allerdings will Kitz Tan großes Kino mit Spezialeffekten machen. Als Vorbild für seine Geschichte nennt er amerikanische Mystery-Produktionen wie "The Sixth Sense" oder "Bewitched" mit Nicole Kidman. Wahrscheinlich wird er sich mit dem fertigen Film ein anderes Festival suchen müssen. In Busan mögen einheimische Blockbuster wie das überdrehte Remake des Italo-Westerns "The Good, The Bad, The Weird" laufen, aber hauptsächlich trifft man auf Filme, deren Regisseure ihre Kameras auf den Alltag ihrer Helden und Heldinnen richten und sie für einige Zeit begleiten. Man könnte vom Genre der Zustandsbeschreibung sprechen. Es ist ein eher beobachtendes als ein inszeniertes Erzählen. Es geht weniger um die psychologische Führung der Figuren als darum, die Welt mit ihren Augen wahrzunehmen. Oft sind die Darsteller Laien, meist spielen die Filme an Originalschauplätzen.

In dem digital gedrehten malaysischen Spielfilm "This longing" ist es ein unwirtlicher Wohnblock in Jahor Bahru, einem Grenzort zwischen Malaysia und Singapur. Hier versuchen der kleine Sidi und sein Vater nach dem Verschwinden der Mutter, ihr Leben in einer kargen Wohnung neu zusammenzusetzen. In einer Parallelgeschichte kehrt eine junge Frau in das Hochhaus zurück, aber statt des Vaters findet sie nur noch ein leeres Zimmer vor. Ohne viele Worte erzählt der Film von Familien, die auseinanderbrechen, und von Menschen, die diesem Zerfall ohnmächtig zuschauen. Am Ende rollen Bagger und Kräne an und beginnen mit gewaltigen Schaufeln, den Wohnblock einzureißen. Was mit den Bewohnern geschieht, werden wir nicht erfahren.

Ähnlich irritiert betrachtet man das offene Ende des chinesischen Films "Er Dong". Ein junger Mann, seine Frau und ihr Baby fahren auf einem klapprigen Motorrad, ihrem einzigen Hab und Gut, einer ungewissen Zukunft entgegen. Dennoch liegt über dieser Einstellung eine zarte Utopie. "Er Dong" handelt von einem Halbstarken in einer abgelegenen Provinz. Seine Wut ist grenzenlos.

Ständig prügelt er sich, verweigert die Arbeit, doch letztlich setzt er sich zur Wehr gegen Verhältnisse, die ihm keine Perspektiven bieten. Auch wenn das große kapitalistische Glücksversprechen Chinas für Er Dong reine Illusion bleibt, nutzt er den gesellschaftlichen Wandel seiner Heimat. In Jin Yangs Regiedebüt sieht man einen, der beginnt, sich als Subjekt zu begreifen und sich aufmacht, seine Gefühlswelt zu ordnen.

So neugierig man auf diesem asiatischen Festival in chinesische, malaysische oder auch indonesische Lebenswelten blickt - die koreanischen Filme haben es besonders schwer. Ständig ist man als ausländische Besucherin mit dem Abgleichen zwischen vorgefundener Wirklichkeit und ihrer Darstellung im Film beschäftigt. Alles scheint in diesem Land automatisiert, digitalisiert, technifiziert, selbst die Toiletten bieten ein riesiges Menü verschiedenster Spül- und Fönvorgänge an. Schnell begreift man, dass das Kino eine Art therapeutische Funktion erfüllt. Die Widersprüche eines Landes, das noch nicht für die Hypermoderne bereit ist, die es sich geschaffen hat, prallen auf der Leinwand mit aller Wucht aufeinander.

Man trifft auf verzweifelte, selbstzerstörerische Menschen, die aus "dynamic Korea" ausgestiegen sind und sich dem konfuzianischen Autoritätsdenken widersetzen. So wie in "Members of a Funeral" von Baek Seung-bin. Schon die nur angedeutete Homosexualität eines jungen Außenseiters in Seoul, der nicht nur erotisch eigene Wege sucht, führt zu hitzigen Publikumsdiskussionen.

Neben mir im Kino sitzt Ed Delos Santos Cabagnot aus den Philippinien. Er ist Filmhistoriker und Mitorganisator des Festivals Cinemanila, das einem internationalen Publikum für eine Woche einheimische philippinische Produktionen präsentiert. Er empfiehlt mir als Kontrastprogramm Brillante Mendozas Film "Serbis". Schauplatz ist ein heruntergekommener Kinopalast in Manila. Weil keine andere Filme mehr funktionieren, zeigt die alte Besitzerin Schwulenpornos. Mit ihrer Patchworkfamilie wohnt sie in den Hinterzimmern des Kinos. Man sieht ihren kleinen Enkel, der zu Stöhngeräuschen seine Hausaufgaben erledigt. Manchmal hilft ihm einer der Zuschauer bei komplizierten Mathegleichungen. Irgendwann jagen die Familienmitglieder und die schwulen Kinobesucher zusammen eine Ziege, die sich im Saal verlaufen hat.

Ed Delos Santos Cabagnot nimmt mich mit zum Empfang seiner Landsleute. Es gibt wunderbares Essen, doch glaubt man sich plötzlich nicht mehr auf einem Filmfestival. Prospekte philippinischer Traumstrände werden verteilt, stolz erzählt man von großen internationalen Produktionen, etwa den amerikanischen Vietnamfilmen "Platoon" und "Apocalypse Now", die hier entstanden seien. Auch auf dem ein paar Tage später stattfindenden indonesischen Empfang meldet sich der Tourismusminister des Landes ausführlich zu Wort. Dann betreten Männer und Frauen in traditionellen Kostümen den Saal und führen lustige Tänze mit Regenschirmen auf.

Doch will man dieses Land wirklich bereisen, in dessen Filmen junge Frauen Silvesterkracher essen, Männer auf groteske Weise jeden Tag eine neue Identität annehmen und Zahnärzte bei der Behandlung unvermittelt Stevie Wonders Lied " I just called to say I love you" anstimmen? Der Film "Blind pig who wants to fly" liefert merkwürdige Innenansichten eines Landes, das seit der Demokratisierung Mitte der Achtzigerjahre auf Selbstsuche ist. Es ist einer dieser Filme, die man nicht unbedingt verstehen muss, um sich ihren Figuren nahe zu fühlen. Nach der Vorführung und Publikumsdiskussion wird sein Regisseur Edwin gebeten, den Stevie-Wonder-Song zu singen. Und alle stimmen ein. Schön, dass sich die Festivalwelten in Busan manchmal wirklich verbinden. "I just called to say, I love you" .

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