Debatte Gorleben: Die Atomkraftgegner sind zurück

Die Mobilisierung für die nächste Großdemonstration in Gorleben läuft gut. Die Bewegung bekommt eine zweite Chance, die Politik wieder unter Druck zu setzen.

Flugblätter und Plakate müssen nachgedruckt werden, weil die Nachfrage so groß ist. In vielen Städten finden gut besuchte Informationsveranstaltungen in zu kleinen Sälen statt. Die Zahl der Orte, aus denen sich Busse am nächsten Wochenende ins Wendland aufmachen werden, nähert sich der 50er-Marke. Es läuft gut bei der Mobilisierung der Anti-Atom-Bewegung zur Großdemonstration am 8. November in Gorleben. Und das ist neu.

In den letzten Jahren war es für die verbliebenen Anti-Atom-Initiativen nicht einfach, nennenswerte Proteste gegen Atommülltransporte und Schrottreaktoren zu organisieren. Viele AtomkraftgegnerInnen zweifelten wahlweise an der Notwendigkeit oder an der Wirksamkeit von solchen Veranstaltungen. Denn mit dem Atomkonsens aus dem Jahr 2000 waren die Verhältnisse festgeklopft. Viele der ehemals Aktiven hofften, dass der damals verkündete Ausstieg irgendwann Schritt für Schritt von ganz allein kommen würde. Jedenfalls so lange das derzeitige Atomgesetz mit seinen festgelegten Reststrommengen für jedes Atomkraftwerk verbindlich bleibt.

Doch seit einigen Monaten hat sich die Situation verändert: Nach und nach wird für auch für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar, dass alle bisherigen Versuche grandios gescheitert sind, auch nur des schwachaktiven Atomülls Herr zu werden. Das "Versuchsendlager" Asse bei Wolfenbüttel etwa säuft ab und droht einzustürzen. Mit dem Debakel in der Asse ist auch der Salzstock Gorleben als mögliches Endlager für den hochaktiven Müll desavouiert. Immerhin war die Asse Vorbild für Gorleben. Und genau wie sie hat der Salzstock Gorleben direkten Kontakt zum Grundwasser. Die Wissenschaftler, die die Sicherheit von Gorleben beschwören, sind übrigens die gleichen, die auch all die Jahre wider besseres Wissen die Asse als ungefährlich deklariert haben.

Das ganze Lügengebäude von der sicheren Entsorgung wackelt also. Trotzdem strebt Angela Merkel gemeinsam mit den Stromkonzernen eine Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke an. Die AKW-Betreiber ihrerseits fühlten sich ohnehin nur so lange an den Atomkonsens gebunden, wie er ihnen einen weitgehend störungsfreien Betrieb der alten Meiler garantiert hat. Jetzt, da nach und nach eine nennenswerte Zahl von Reaktoren abgeschaltet werden müsste, wollen sie nichts mehr davon wissen. Vier Kraftwerksblöcke sollten ursprünglich zwischen 2007 und 2009 stillgelegt werden. Doch durch trickreiches Jonglieren mit den Laufzeiten konnte das verhindert werden. Nach der nächsten Bundestagswahl hoffen die Konzerne auf eine Regierungskonstellation, die eine weitgehende Freigabe der Laufzeiten möglich macht.

Genau dies alarmiert jetzt jene AtomkraftgegnerInnen, die auf die Logik des Atomkonsenses vertraut haben. Vor allem jene Westdeutschen, die ihre politische Sozialisation in den 70er- und 80er-Jahren in Brokdorf, Wackersdorf und Kalkar erfahren hat, sehen sich um einen wesentlichen Erfolg ihres Engagements betrogen. Ähnlich geht es denjenigen, die nach der Tschernobyl-Katastrophe in den 80er-Jahren oder gegen die Castor-Transporte in den 90er-Jahren massenhaft auf die Straße gingen. Als der Spiegel im Juli auf einem Titelbild die Anti-Atom-Sonne untergehen ließ, war für viele das Maß voll. "Atomkraft? Nicht schon wieder!" ist jetzt ihr Slogan, mit dem sie erneut mobilisieren, und zwar gemeinsam mit einer jungen Generation von AktivistInnen. Die hat nach Heiligendamm und Klimacamp nun den Castor-Transport als Ansatzpunkt für gesellschaftsverändernden Protest entdeckt.

Der neue Schwung der Bewegung kommt genau im richtigen Augenblick. Denn in gut einem Jahr, in den Wochen und Monaten nach der Bundestagswahl im September 2009, wird eine grundlegende Entscheidung über die Zukunft der Atomenergie in diesem Land fallen. Entweder die vier Stromkonzerne setzen sich durch und die Laufzeiten der derzeit 17 AKW werden verlängert, dann wird für lange Jahre kein einziges abgeschaltet. Oder es bleibt beim jetzigen Atomgesetz, dann werden in der nächsten Legislaturperiode fünf bis sieben Reaktoren stillgelegt; die anderen laufen weiter. Doch auch eine dritte Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen: Die neu erwachende Anti-Atom-Bewegung entfaltet eine solche Dynamik, dass auch neuere Kraftwerke wie der Leukämiemeiler Krümmel bei Hamburg dran glauben müssen. Immerhin ist dieses Kraftwerk seit dem Brand im Juni 2007 wegen Reparaturen vom Netz und somit der Beweis erbracht, dass es gar nicht gebraucht wird.

Die Parteien scheinen sich kurz vor dem Wahljahr festgelegt zu haben, wo sie atompolitisch stehen: SPD, Grüne und Linke wollen den Atomausstieg, wenn auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Union und FDP streben Laufzeitverlängerungen an. Doch durch die Unwägbarkeiten des Fünfparteiensystems lässt sich nur im Falle eines schwarz-gelben Sieges aus dem kommenden Wahlergebnis automatisch ableiten, wie die Entscheidung über die Zukunft der Atomkraft ausfallen wird. Ansonsten ist völlig offen, wer mit wem koaliert und welche Politik dabei herauskommt. Daher ist es auch nicht garantiert, dass Grüne, SPD und Linke nach der Wahl noch zu ihrer Anti-Atom-Position stehen und diese nicht der ein oder anderen Koalitionsoption geopfert werden muss. Die Hamburger Grünen haben diesen Schwenk erst kürzlich in Sachen Elbvertiefung vorgeführt.

Fazit: Wollen sich die AtomkraftgegnerInnen in diesem Land gegen die mächtigen Stromkonzerne durchsetzen, dann reicht es nicht, sich auf die atomkritischen Parteien zu verlassen. Deshalb ist es auch gefährlich, dass die neue Atom-Debatte in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit hauptsächlich als Diskussion zwischen ParteipolitikerInnen stattgefunden hat. Gorleben ist die Chance für die Anti-Atom-Bewegung, wieder als eigenständiger Akteur wahrgenommen zu werden. Dass auch Grüne, Linke und Jusos ins Wendland mobilisieren, ist nur dann hilfreich, wenn sie die Proteste nicht als Bühne für eigene Profilierung missbrauchen.

Entscheidend ist jetzt, dass sich die Fehler von 1998, die auf beiden Seiten gemacht wurden, nicht wiederholen. Damals verbreiteten die Grünen vor und nach der Wahl das Bild, sie könnten den Atomausstieg allein organisieren. Dann schluckten sie in den Verhandlungen um den Konsens jede noch so große Kröte und feierten alles trotzdem als Erfolg. Auf der anderen Seite löste sich über die Hoffnung auf Regierungshandeln, die enttäuschten Erwartungen und die vielen Verratsvorwürfe die Protestbewegung weitestgehend auf. Übrig blieben nur kleine aktive Reste.

Jetzt aber ist die Bewegung wieder da, und der Atomausstieg wird eines der großen Wahlkampfthemen sein. Insofern gibt es nun die zweite Chance für die Bewegung, die ihr nahestehenden Parteien wieder unter Druck zu setzen, damit diese den überfälligen Ausstieg endlich durchsetzen. JOCHEN STAY

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