Urbanismus: Der Nacktscanner im Townhouse

Die interessantesten Dinge, sagt Wolfgang Kaschuba, liegen oft vor der Haustür. So hat der Chef-Ethnologe von der Humboldt-Uni sein neuestes Forschungsobjekt entdeckt: das Einfamilienhaus

Forschungsobjekt Einfamilienhaus mal ganz anders Bild: ap

Einmal hat es das Institut von Wolfgang Kaschuba sogar ins ZDF-Abendprogramm geschafft. Mit vielen Menschen und Gerät kam ein Fernsehteam zu Besuch, rollte einen roten Läufer aus, hängte einen Kronleuchter unter die Kolonnaden und schmückte die Fenster mit feinen Gardinen - das alles für ein paar Sekunden Vorspann der Hotelserie "5 Sterne". "Ich hätte ja gern den Portier gespielt", sagt Kaschuba. Doch das ZDF wollte den Professor und Geschäftsführer des Ethnologie-Instituts der Humboldt-Universität nicht als Hotelboy. Immerhin haben sie ihm für die Drehaufnahmen Geld gezahlt. Damit kann der 58-Jährige wieder ein Projekt an seinem Institut finanzieren.

Die Geschichte von seinem Institut als Nobelhotel erzählt Kaschuba gern. Er hat einen Blick für edle Gebäude und gute Lagen. Als sein Institut am Schiffbauerdamm ausziehen musste, bestand er darauf, in das Haus in der Mohrenstraße zu ziehen, direkt gegenüber dem Justizministerium. Überhaupt, sagt er, die Ecke um den Hausvogteiplatz sei hervorragend für einen Stadtethnologen. Im Dreieck von Ministerium, Auswärtigem Amt und zwei großen privaten Fernsehsendern ließen sich bestens Feldstudien betreiben.

"Hier Coffee to go". Kaschuba zeigt auf eine junge Frau, die mit ihrem Pappbecher über den Hausvogteiplatz eilt. "Das gabs vor vier, fünf Jahren nicht." Kaschuba würde gerne öfter im Café sitzen auf dem Platz und die Passanten beobachten, doch dafür hat er selten Zeit. Dabei forscht ein Ethnologe vor allem, in dem er beobachtet. Oder sogenannte Wahrnehmungsspaziergänge macht. Auch Stadtentwicklungspolitiker sollten viel häufiger spazieren gehen, meint Kaschuba, um eine andere Sicht auf die Stadt und die Bebauung zu bekommen. Ein weiteres Forschungsobjekt hat der agile Professor, der seit 16 Jahren an der HU lehrt, gleich nebenan: Um die Ecke am Werderschen Markt schießen gerade Townhouses, die modernste Form des Einfamilienhauses, aus dem Boden - Kaschuba neuestes Lieblingsprojekt.

Schon immer hat sich die Ethnologie für den Lebensraum der Menschen interessiert und bereits im Dorf und im Tipi die Aufteilung von öffentlichem und privatem Raum erforscht und was das über Familie und Gesellschaft aussagt. Nun ist es die Stadt als Lebensraum und das Wohnzimmer.

Zum "EFH" sei er eigentlich über die Medien gekommen, erzählt Kaschuba. So wie er seit einiger Zeit immer wieder über Freitag, den 13. als Ethnologe befragt wird, so bat ihn neulich die Architekturzeitschrift Archithese über das Einfamilienhaus zu schreiben. "Ethnologen haben eine diffuse Kompetenz", sagt der Mann aus Göppingen mit seinem unüberhörbar schwäbischen Zungenschlag. Über globalisierte Beerdigungskultur am Beispiel der Metropole Berlin bis hin zu Weltmusik aus deutscher und französischer Perspektive lehren er und seine Mitarbeiter in diesem Semester. Alles hat mit menschlichen Ritualen, Alltag, Kultur, Lebenswelten zu tun. Kaschuba doziert in diesem Semester über "Bürgerlichkeit als kultureller Habitus". Dazu passt das Einfamilienhaus.

Kaschuba schrieb in dem Artikel in Archithese über brasilianische Fußballer von Werder Bremen in ihrem Eigenheim, über Samba auf dem Platz und Spießertum im Heim, über die Geschichte des Einfamilienhauses und die Ironie, die in dem "EFH" steckt. "Zwischen Traum und Trauma" war der Text überschrieben.

Im 18. Jahrhundert kommt das Einfamilienhaus Kaschuba zufolge als Traum des Bürgers in Mode. "Der Bürger als neuer leitender Akteur durch Bildung und Leistung erschafft sich zunächst seine bürgerliche Villa und das Stadthaus. Das setzt einen hohen soziales Status und ein Einkommen voraus - ohne Bedienstete geht das nicht." Die repräsentativen Häuser vor allem im Westen der Stadt, Villen und Stadthäuser aus der Zeit der Salons bis hin zum gesättigten wilhelminischen Bürgertum, prägen bis heute das Bild Berlins. Bis dahin gibt es wenig Ironie, aber Polemik: Ende des 19. Jahrhunderts schimpft die Arbeiterbewegung auf die Paläste - und meint nicht nur Kaiserpaläste, sondern auch Bürgerpaläste. Nach und nach keimt der Gedanke auf, dass es auch kleinere Lösungen geben muss.

So entsteht das Eigenheim in seiner modernen Form, es entstehen die Reihenhäuser und Wohnungen für ein Kleinbürgertum, das sich durch diesen Besitz nach unten - zu Arbeiterschaft und Mietskaserne - abgrenzt. "Damit wird das Einfamilienhaus dann auch erst zur ironischen Figur", sagt Kaschuba. Der kleine Mann, der einen bürgerlichen Traum verkörpert mit seinem Häuschen, für das er hart gearbeitet hat und so zeigt, dass er nach etwas Höherem strebt. "Das sieht ja aus hier wie das Kanzleramt", ruft Kaschuba begeistert vor einem riesigen runden Glasfenster an einem der eng aneinandergedrängten dreistöckigen Häuser um die Ecke seines Instituts.

Die Townhouses wollen "das dröge und flache Reihenhaus kreativ in die Höhe und ins Edle weiterentwickeln", hat er geschrieben. So sehen sie dann aus wie Schichtkuchenstücke aus Glas. Das Kreative sind die runden Treppen- oder Toilettenfenster mit dem Yin-Yang-Zeichen und das Edle die riesigen, kugelrund geschnittenen Buchsbäume im Vorgarten; in der Einfahrt der schwarze Jeep neben der BSR-Tonne.

Für Kaschuba sind die Townhouses "Inszenierung und Rückzug des Ichs in exklusiver Form": Man will mitten in Mitte sein, dort, wo die Macht situiert ist, der Arbeitsplatz und die Oper um die Ecke, man will sich zeigen durch das viele Glas hindurch - und doch eine blickdichte Terrasse haben.

Ob er die Townhouses schön findet? Architektonisch mag er sich kein Urteil erlauben, sagt Kaschuba. Und über den Geschmack anderer zu urteilen wirke leicht arrogant. Das passiere auch ihm, weshalb als Ethnologe immer wieder "der Blick über die eigene Schulter" wichtig sei.

Über die Einfamilienhäuser im Speckgürtel würde Kaschuba auch gern forschen. Aber noch ist er nicht dazu gekommen. Außerdem gibt es da ein anderes Problem: Wer lässt schon gern einen Ethnologen in sein Wohnzimmer? Ein solcher Besuch wäre eine Art "Nacktscanner", wie Kaschuba es nennt, der so manchen Traum und manche Selbstinszenierung bloßlegt. "Man hat ja eine Ahnung, dass da etwas hakt." Kaschuba sieht das Einfamilienhaus gern auch als "versteinertes Sofa", als freudsche Couch für eine ganze Familie, festgemauert. Das EFH sei eine "familienbiografische Skulptur, in der sich eben auch die Erreichung des bürgerlichen Klassenziels symbolisch verkörpert: ein Denkmal zu Lebenszeiten."

Vorerst bleibt es wohl bei dem Blick von außen auf das Innere. Aber auch der kann einem viel erzählen, weiß Kaschuba. "Der nächste Härtetest wird sein: Was hängt zu Weihnachten in den Fenstern?"

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