Improvisationswoche in Berlin: Jazz hat kein Zentrum

Internationale Improvisationswoche in Berlin: Die ganze Stadt vibrierte vor Konzerten. Von der WDR-Big Band bis zur Echtzeitmusik-Bewegung.

Spielte drei Konzerte in der Jazzfestwoche: Henry Grimes. Bild: Roland Owsnitzki

Man hätte, wie in Donaueschingen bei solchem Krach üblich, Ohrstöpsel verteilen können. Und sich darüber wundern, wie schön diese Neue Musik klingen kann, ganz tief im Eigenraum versenkt - das wäre vielleicht der Deal gewesen. Ach, und dann von gestern träumen, als das Kaputtspielen noch oberste Regel des Free Jazz war. Fast auf den Tag genau 40 Jahre dem Beginn des ersten Total Music Meetings (TMM), damals von Peter Brötzmann als Gegenveranstaltung zu den Jazztagen begründet, steht er wieder auf der Bühne des Quasimodo. Jetzt jedoch als der Integrationsbeauftragte des JazzFests 2008 - im Vorfeld hatte der neue künstlerische Leiter Nils Landgren, selbst des experimentellen Jazz unverdächtig, verkündet, dass er Brötzmann schon immer super gefunden habe und die alten Grenzen zwischen Free und Mainstream nun endlich passé sein sollten. Dass das, was da auf der Bühne passierte, jedoch so alt klang, dass man laut schreien wollte - hätte man es vorher ahnen können?

Der junge New Yorker Trompeter Peter Evans berichtet, dass schon beim ersten Soundcheck klar war, wie es laufen würde. Ohrstöpsel rein, dann macht Brötzmann sein Ding in der linken Bühnenecke und der japanische Gitarrist Keiji Haino dreht rechts die Verstärker auf. Statt kollektiver Improvisationsversprechen nur Lärm und Krach, und bis auf wenige kurze Solo- und Duopassagen war von Peter Evans und dem Chicagoer Saxofonisten Mars Williams eigentlich nichts zu hören. Ihm habe es dennoch Spaß gemacht, sagt Evans. Eine Herausforderung sei es jedoch nicht gewesen.

"Fucking Big Festival", sagt der norwegische Schlagzeuger Morten J. Olsen, ein paar Tage vorher. Er sitzt auf einer improvisierten Bank vor dem Berliner Ausland, einem Club, der sich der Pflege der experimentellen Musik widmet, und versucht einem italienischen Avantgarde-Touristen zu vermitteln, was es heute mit dem TMM auf sich hat, das in der Berlinischen Galerie stattfindet. Der 27-jährige Olsen hatte selbst gerade ein Set mit der Band von Christof Kurzmann und dem großartigen Chicagoer Saxofonisten Ken Vandermark gespielt, und er war nur einer der zahlreichen illustren Gäste des Charhizma-Festivals, das vom 31. Oktober bis 2. November im Ausland stattfand. Prominentester Gast bei Kurzmanns Party war der afroamerikanische Avantgarde-Bassist Henry Grimes, der auf der Ausland-Bühne seinen 72. Geburtstag feierte. Damit begann in diesem Jahr eine Woche voll teils widersprüchlicher, überraschender und auch berechenbarer Höhepunkte im Zentrum der improvisierten Musik. Längst ist das JazzFest nicht mehr die dominante Kraft, auch hat das TMM, das 1968 begann, Punkte abgeben müssen.

Mit der Jazzwerkstatt ist zudem ein neuer Player aktiv, der vor einem Jahr mit einem erstaunlich erfolgreichen Festival "Brötzmann Total" dem JazzFest wie dem TMM trotzte. Mit festivalähnlichen Ereignissen wie, kürzlich erst, dem großen Konzertabend im Radialsystem zum 70. Geburtstag von Alexander von Schlippenbach mit Globe Unity Orchestra, Schlippenbach Trio und Schlippenbach solo belebt die Jazzwerkstatt seitdem die Hauptstadt-Szene. Die beiden Gründungsmitglieder der Free Music Production und des von ihr veranstalteten TMM, Schlippenbach und Brötzmann, wurden beim diesjährigen Jubiläumsfestival nicht gesehen, erstaunlich ist jedoch, wie vertraut die großen Namen des einstigen Jazz-Rebellen-Festivals noch klingen. Backstage in der Berlinischen Galerie erinnert sich der Londoner Saxofonist Evan Parker an sein TMM-Konzert mit Brötzmann vor 40 Jahren im Quasimodo: Bis 6 Uhr morgens habe man gespielt, dann sei man in den Zwiebelfisch gegangen, habe gesoffen und danach habe man zu sechzehnt in einem großen kasernenähnlichen Raum gepennt. Seitdem habe er jedes Mal beim TMM gespielt, in diesem Jahr zusammen mit Peter Evans. Berlin und das TMM sei für die Entwicklung der improvisierten Musik in Europa unschätzbar wichtig gewesen, und er freut sich, dass Nachwuchs-Talente wie Evans sich mit großer Wucht hier vorstellen.

Besonders die aufstrebende Echtzeit-Szene, wegen der fast täglich neue Musiker aus Sydney, London und Chicago nach Berlin umziehen, hat in den vergangenen Jahren spürbar zulegen können. Ihre zahlreichen im Online-Konzertkalender (www.echtzeitmusik.de) gelisteten Vorführungen finden immer öfter in Privatwohnungen statt. Doch wo das Publikum sonst aus 15 bis 20 Zuschauern bestand, drängeln sich jetzt vier- bis fünfmal so viele. Dabei ist die Musik, die etwa bei dem ersten gemeinsamen Konzert der Trompeter Axel Dörner und Peter Evans am 3. November im TheaterKapelle in Friedrichshain entstand, alles andere als gefällig. Der junge in Berlin lebende Bassist Clayton Thomas hatte diesen Abend organisiert und dazu ebenfalls seinen Lehrmeister Henry Grimes eingeladen, der wie Evans auch eigentlich in der Stadt weilte, um beim JazzFest aufzutreten.

Während die Echtzeit-Musiker noch gewohnt sind, sich die mageren Eintrittsgelder als Abend-Gage auszuzahlen, zahlt man beim JazzFest auf Subventionsniveau. Und das JazzFest Berlin hat im Festspielhaus auch eine überschaubare und ausreichende Saalgröße zur Verfügung. Dass eine illustre Truppe wie Roswell Rudds Trombone Shout den großen Samstagabend eröffnete, zählt zu den großen Leistungen des diesjährigen JazzFests. Das Ensemble kämpfte sich über Hürden und Noten durch Rudds Geschichte vom Dixieland-Posaunisten zum avantgardistischen Bürgerrechts-Jazz, von freier Gruppenimprovisation bis zu Kid Orys erfolgreichster Tailgate-Komposition "Muskrat Ramble", die 1965 von dem Folksänger Country Joe McDonald unter dem Titel "I-Feel-Like-Im-Fixin-To-Die-Mama-Rag" adaptiert und dann als Anti-Vietnamkriegs-Song ein großer Hit wurde. Immer wieder gebrochen durch einen himmlisch abwesenden Henry Grimes, der durch seine stoisch gebrochenen Geigen-Kapriolen jedes Timing konterte.

Backstage unterhalten sich der Trombone-Shout-Tubist Bob Stewart und Schlagzeuger Barry Altschul über die neue Situation in ihrer Heimat. Altschuls Hymnen auf den kommenden Präsidenten fügt Stewart hinzu, dass sich für ihn als schwarzen Amerikaner nun ein Traum erfüllt, den sein Vater nicht zu träumen gewagt hatte. Als Musiker habe er schon vor 40 Jahren erlebt, was Freiheit bedeute, und eine Ahnung von dem, wie Jazzmusiker auf der Bühne demokratische Werte wie Respekt, Verantwortung und Solidarität auszudrücken in der Lage sind, sei jetzt auf der politischen Bühne angekommen. Fast alle amerikanischen Musiker dieses JazzFest-Jahrgangs sind absentee voters, Briefwähler, die in einem deutschen Hotelzimmer die Wahlen auf CNN verfolgen, so auch der Saxofonist David Sanborn: Er habe sich immer als musikalischer Botschafter des anderen Amerikas verstanden und jetzt sei endlich Primetime. Auf der Bühne glänzt Sanborn am Abschlussabend mit einer Rhythm-and-Blues-Revue. Das volle Festspielhaus allein garantiert zwar noch kein gutes Programm, doch mit dem neuen künstlerischen Leiter hat sich was getan in Berlin.

Auch wenn nicht alles aufging: Zuvor großspurig angekündigte Acts wie etwa das Eröffnungskonzert mit Vince Mendoza waren zum Schaudern bescheiden, bejubelt wurden andere, wie das mit der WDR Big Band oder Maceo Parker, der munter die gängigen Klischees vom afroamerikanischen Unterhaltungsjazz bediente. Ein improvisatorischer Höhepunkt des JazzFests fand außerhalb des Wettbewerbs statt: Im zerbrechlichen Duo-Setting spielten Saxofonist Heinz Sauer und Pianist Bob Degen im Konzertsaal der UdK.

Nach Jahren der Profilsuche hat sich das JazzFest in diesem Jahr wieder auf seine kulturelle Kompetenz besonnen. Es bildete zwar keine aktuellen Strömungen ab, von Alt-Stars wie Herbie Hancock und Sanborn ist Neues auch nicht zu erwarten. Doch der Promi-Faktor ist zurück, Traditionslinien durchziehen das bunte Programm, man ist wieder im Jazz angekommen. Noch gab es keine nennenswerten Acts, die nicht auch auf anderen großen deutschen Festivals stattfinden, noch ist das Festival weit von dem entfernt, was es heute braucht, um über die Region hinaus zu strahlen. Doch das Spiel ist eröffnet. Nächstes Jahr wird das Label Blue Note 70 und das JazzFest hat ein Thema.

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