Porträt der Schriftstellerin Halder: Kein ganz gewöhnliches Leben

Baby Halders Buch "Kein ganz gewöhnliches Leben" ist in Indien ein Bestseller. Dass Halder schreiben kann, ist tatsächlich ungewöhnlich. Denn sie besuchte nur kurz eine Schule und lebte im Slum.

Zurzeit auf Deutschlandtournee: die indische Schriftstellerin Baby Halder. Bild: dpa

Wo das Leben noch in seiner ganzen Härte hinlangt, bedarf es einer echten glücklichen Fügung, um den Kreis des Elends zu durchbrechen. Das Glück der Baby Halder ist hart genug verdient. Die junge Frau aus Bengalen, etwa 35 Jahre alt, Mutter dreier Kinder, von denen das älteste 21 ist, hat viel hinter sich.

Die Fakten: Nach unterschiedlichen Schätzungen gibt es in Indien zwischen 15 und 20 Millionen Hausangestellte, die überwältigende Mehrheit davon Frauen und Mädchen. Wahrscheinlich sind ungefähr ein Viertel aller "domestic workers" Kinder unter 14 Jahren. Ihre Situation ist rechtlich in keiner Weise abgesichert. Sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse und auch sexueller Missbrauch kommen häufig vor und werden nur selten geahndet.

Die Person: Baby Halder wurde wahrscheinlich 1973 oder 1974 in Westbengalen geboren. Bereits als Kind verheiratet, flieht sie als Erwachsene mit ihren Kindern vor einem gewalttätigen Ehemann in die Großstadt, um sich als Hausangestellte durchzuschlagen. Dass sie nach Jahren als ausgebeutete Billigarbeitskraft zur gefeierten Autorin werden konnte, verdankt sie der Förderung eines Arbeitgebers.

Das Buch: Die Lebensgeschichte der Baby Halder sorgte in Indien vor allem durch ihre englischsprachige Ausgabe, die 2006 unter dem Titel "A Life Less Ordinary" erschien, für landesweites Aufsehen und hat viel dazu getan, die rechtlose Situation der Hausangestellten verstärkt in die öffentliche Diskussion zu bringen. Das Buch, dessen Verfasserin nur ein paar Jahre zur Schule gegangen ist, wurde schnell zum Bestseller und ist mittlerweile in neun indischen Sprachen erschienen; dreizehn ausländische Verlage haben die Rechte gekauft.

Die Übersetzung: "Kein ganz gewöhnliches Leben". Aus dem Englischen von Annemarie Hafner, Draupadi Verlag, Heidelberg 2008, 223 Seiten, 14 €

Gerade ist sie auf Deutschlandreise, war auf der Frankfurter Buchmesse und anschließend zwei Wochen lang auf Einladung der Heinrich Böll Stiftung in deutschen Städten unterwegs, um überall ihr Buch zu präsentieren und Fragen zu ihrem Leben zu beantworten. Berlin ist die letzte Station der Tour, doch noch immer wirkt sie frisch und gern bereit, auf immer dieselben Fragen freundlich Auskunft zu geben.

Dass diese Frau über einen unerschöpflichen Vorrat an Energie verfügen muss, glaubt man gern, wenn man ihr Buch gelesen hat. Abends, nach der Arbeit, die sie als Mädchen für alles im Haushalt eines pensionierten Wissenschaftlers in der Stadt Gurgaon nahe Delhi leistete, und nachdem ihre Kinder eingeschlafen waren, hatte sie sich hingesetzt und geschrieben.

Wie es dazu überhaupt gekommen ist, gehört zum märchenhaften Teil der Geschichte. Ihr Arbeitgeber Prabodh Kumar, ein pensionierter Professor für Anthropologie, hatte eines Tages, als sie seine Bücher abstaubte, bemerkt, dass sie die Titel aufmerksam ansah, und gefragt, ob sie lesen könne. Seine Hausangestellte bejahte, wenngleich zögernd, da sie nur wenige Jahre zur Schule gegangen war und Angst hatte, beim Vorlesen einen Fehler zu machen.

Der Professor begann ihr Bücher zum Lesen zu geben - als erstes eines der Feministin Taslima Nasreen - und drückte ihr einen Stift und ein Heft in die Hand. "Ohne ihn hätte ich nie mit dem Schreiben angefangen", sagt sie im Gespräch. Aber da er ihr die Aufgabe gestellt hätte, jeden Tag ein wenig zu schreiben, vielleicht etwas über ihr Leben, habe sie das eben getan und immer mehr Vergnügen daran gefunden. So schreibt sie in ihrem Buch, und so ähnlich erzählt sie es auch.

Sie spricht viel, unterstreicht ihre Worte mit ausdrucksvollen Gesten, sie lacht gern. Unübersehbar, dass es ihr gut geht. Was genau sie erzählt, erfährt man allerdings nur ungefähr, denn der Dolmetscherin bleibt nichts anderes übrig, als ihre ausführlichen Antworten recht knapp zusammenzufassen.

Es ist auch ein wenig heikel, einer Person, mit der man sich nur über eine dritte Person verständigen kann, persönliche Fragen zu stellen. Zumal das Buch, das der Grund für dieses Gespräch ist, sehr schmerzhafte Fragen aufwirft. "Kein ganz gewöhnliches Leben" ist auch kein gewöhnliches Buch; mit literarischen Maßstäben lässt sich sein Wert nicht messen. Baby Halder ist eine ungeübte Schreiberin, verfügt aber über ein großes Erzähltalent.

Ihr Lebensbericht berührt, weil sie imstande ist, Erinnerung schreibend in Erleben umzuwandeln, und weil sie aus erster Hand über Dinge berichten kann, die unsereins sonst nur aus der Zeitung kennt - Vernachlässigung, alltägliche Gewalt, Ausbeutung. Dass diese eine Person in der Lage war, all das hinter sich zu lassen, und das auch noch durch die Kraft des geschriebenen Wortes, ist wie ein Wunder, und man wird dessen nur allzu gern Zeuge.

Baby Halder kennt ihr genaues Geburtsdatum nicht. Sie weiß nur, dass sie wahrscheinlich 1973 oder 1974 in Westbengalen geboren wurde. Diese schlichte Tatsache sagt viel. Ihre Mutter verlässt die Familie zusammen mit dem jüngsten Kind, als Baby etwa sieben ist. Kurz danach wird die älteste Schwester, die für die Kleineren hätte sorgen können, vom Vater gegen ihren Willen verheiratet; sie ist fünfzehn. Zurück bleiben Baby und zwei Brüder, einer älter, einer noch jünger als sie.

Oft gibt es nichts zu essen im Haus, der Vater ist häufig abwesend und schlägt, wenn er da ist, die Kinder brutal wegen Nichtigkeiten; als heile Gegenwelt zum bedrohlichen familiären Chaos erscheint Baby allein die Schule. Noch schwieriger wird die Situation, als der Vater eine neue Frau ins Haus bringt. Die Kinder werden immer wieder zu Verwandten und Freunden abgeschoben oder flüchten selbst dorthin, und zu Hause wird Baby als das einzige Mädchen mit Haushaltspflichten überhäuft, sodass sie über längere Zeiträume hinweg nicht die Schule besuchen kann. Mit knapp dreizehn muss sie einen Mann heiraten, der mehr als doppelt so alt ist wie sie selbst. Bei der Geburt ihres ersten Kindes, während der sie beinahe stirbt, ist sie kaum vierzehn. Ihre Ehe ist unerträglich, geprägt von Gewalt, Misstrauen und Ausbeutung.

Doch Jahre später schafft die junge Frau den Sprung: Nachdem ihr Mann versucht hat, ihr mit einem Stein den Kopf einzuschlagen (ihre Schwester war einige Jahre zuvor von ihrem Ehemann ermordet worden, ohne dass diese Tat je zur Anzeige gekommen wäre), nimmt Baby ihre Kinder und fährt nach Delhi, um sich als Haushaltshilfe zu verdingen. Auch die Erfahrungen, die sie dort machen muss, sind nur schwer zu ertragen. Als billige Arbeitskraft skrupellos ausgebeutet, muss sie einen unmöglichen Spagat zwischen Erwerbstätigkeit und Kindererziehung schaffen. Baby wird gezwungen, die jüngeren Kinder, während sie arbeitet, den ganzen Tag auf dem Dachboden des Hauses ihrer Arbeitgeber wegzuschließen. Der älteste Sohn, nun zwölf Jahre alt, kann nicht bei ihr wohnen und muss als minderjähriger domestic worker in einem anderen Haushalt Geld verdienen. Erst als Baby zu Prabodh Kumar kommt, wendet sich ihr Leben zum Besseren.

Heute lebt Baby Halder als ein Familienmitglied im Hause Kumar. Sie nennt, wie dessen eigene Kinder, ihren Arbeitgeber und Mentor "Tatusch", was nicht Bengali ist, sondern, da Herr Kumar mit einer Polin verheiratet ist, eine polnische Koseform von "Papa". "Ich werde immer bei ihm bleiben", sagt Baby nachdrücklich. Doch auch für ihren leiblichen Vater findet sie versöhnliche Worte. Er habe sich durch die Lektüre ihres Buchs sehr gewandelt, sagt sie. Heute sei er sehr stolz auf seine schreibende Tochter, gebe überall mit ihr an und habe nicht nur seine Ansichten über sie selbst, Baby, sondern auch über den Wert von Töchtern im Allgemeinen geändert. Fast scheint sie selbst ein wenig stolz auf diesen Vater, vor dem sie als Kind solch große Angst hatte.

Auch in ihrem Buch fällt das völlige Fehlen jeglichen anklagenden Untertons auf. Falls es einen Subtext gibt, so lautet er lapidar "Solche Dinge passieren, und auch mir sind sie eben passiert". Fern von jedem Fatalismus scheint darin eine außergewöhnliche Fähigkeit auf, das eigene Schicksal in objektiven Kategorien zu betrachten. Obwohl Baby Halder immer wieder zum Opfer gemacht wird, nimmt sie die Opferrolle nicht an, sondern schreibt sie den Umständen zu. Das ermöglicht ihr, sogar die Rolle der Täter zu relativieren und ihr Handeln zu verzeihen.

Ob sie denn auch mit ihrem Ehemann über das Buch gesprochen habe? Als die Frage übersetzt bei ihr ankommt, verfinstert sich ihre Miene vorübergehend; eine abwehrende Handbewegung begleitet die Antwort. Nein, ihr Mann habe nicht das geringste Interesse gezeigt, mit ihr zu reden. Einige Zeit vorher hatte sie im Gespräch allerdings erwähnt, der älteste Sohn lebe jetzt beim Vater.

Welche Frage würde sie denn selbst vielleicht stellen, die sie sonst nicht gefragt werde? Die Antwort kommt ohne Zögern: "Warum ist meine Mutter weggegangen?" Das sei die eine Frage, die ihr seltsamerweise niemand stelle, die sie aber immer noch umtreibt. Ja, räumt sie ein, einen Teil ihrer Stärke und dass sie selbst es wagte, sich aus einer unerträglichen Ehe zu befreien und fortzugehen, verdanke sie sicher ihrer Mutter. Aber vor allem habe sie aus deren Handeln gelernt, dass sie ihre Kinder nie, nie verlassen dürfe.

Mittlerweile schreibt Baby an ihrem dritten Buch. Das zweite, eine Art Fortsetzung ihres Lebensberichts, ist auf Bengali bereits erschienen. Dieses muss sie nicht mehr spätabends nach der Arbeit tun; sie kann schreiben, wann immer sie will. Einen kleinen Hund hat sie nun, einen Spaniel namens Coco, dessen Foto sie am Ende des Interviews noch lächelnd hervorzieht. Den Kumarschen Haushalt führt sie weiterhin, doch unterstützt von Hausangestellten. Ihre zwei jüngeren Kinder leben bei ihr. Beide seien sehr gut in der Schule, erzählt sie voller Stolz. Ihr Sohn, jetzt fünfzehn, sei ein begabter Taekwondo-Kämpfer, und ihre dreizehnjährige Tochter könne sehr gut malen und wolle später einmal Medizin studieren. Schon allein deshalb, so erklärt Baby Halder, werde sie immer weiter schreiben.

Sie tue es nun nicht mehr nur für sich selbst, sondern vor allem deshalb, um ihren Kindern eine Zukunft zu geben.

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