Forscher wollen Leseförderung: Die Vorleserinnen

Vorlesen bringt was - aber wenn's wichtig wird, hört es auf: in Kita und Schule. Pisaforscher plädieren für massive Leseförderung - sonst hört das mit den Risikoschülern nie auf.

Vorbildlich: Roland Koch liest Kindern vor. Bild: dpa

Sie lügen also, die Eltern: Im vergangenen Jahr noch hatten bei einer Studie nur 18 Prozent der befragten Eltern angegeben, ihren Kindern niemals vorzulesen. In diesem Jahr machten die Feldforscher die Gegenprobe. Sie befragten die Kinder. Und siehe da: 37 Prozent der Mädchen und Jungen zwischen 4 und 11 Jahren behaupten: Und liest niemand vor!

Dumm gelaufen für die Eltern. Haben sich im letzten Jahr viele von ihnen als Vorlese-Meister ausgegeben, um ihren Ruf zu polieren? Oder nehmen Kinder das Vorlesen ab einem gewissen Grad an lieblosem Runterleiern einfach nicht mehr als Vorlesen wahr? Fragen, die auch die Verantwortlichen der Studie nicht beantworten können. Ebenso erstaunlich: Bei der Überprüfung der 37 Prozent Nichtvorlesekinder ließen sich keinerlei Hinweise auf den Bildungs- oder Migrationshintergrund dieser Kinder als Erklärung finden.

Bei der ersten repräsentativen Erhebung seit über 20 Jahren zum Thema Vorlesen wurden 875 repräsentativ ausgewählte Kinder zwischen 4 und 11 Jahren von 236 speziell geschulten Interviewern persönlich befragt. Altersgruppen und das Geschlechterverhältnis wurden entsprechend der realen Verhältnismäßigkeit ausgewählt. Die Kernfragen der Studie lauteten: Findet Vorlesen im Kinderalltag statt? Wenn ja: wo und von wem? Was schätzen Kinder am Vorlesen besonders?

Die Nichtvorleseeltern gehen quer durch alle Schichten. Dabei weiß die Stiftung Lesen, die die Studie "Vorlesen im Kinderalltag 2008" initiiert, dass Vorlesen nicht etwa eine nette Ergänzung des kindlichen Bildungsplans ist, sondern erst das Fundament für ein lebenslanges Lernen legt.

Der Beipackzettel der Nebenwirkungen des Lesens ist lang. So erkärt es der Sprecher der Stiftung Lesen, Christoph Schäfer. Vorlesen fördere die Ausdrucksfähigkeit, unterstütze die Lesemotivation und forme Hirnstrukturen für die Lernkompetenz. Doch das ist längst nicht alles: Neben dem Bildungsimpuls schafft die Vorlesesituation auch das Gefühl von Geborgenheit und Nähe; sie stärkt die soziale Kompetenz von Kindern.

Auch Kinder, denen vorgelesen wird, schätzen diese besondere Art der Zuwendung: 77 Prozent aller befragten Schulkinder lieben es, vorgelesen zu bekommen. Wieder überrascht der Vergleich mit der Elternstudie, die zeigte, dass 35 Prozent aller Schulkindereltern von ihren Kindern glauben, sie fänden Vorlesen nicht besonders attraktiv.

Ein Fünftel der Kinder, denen weder zu Hause noch in der Kita oder der Schule vorgelesen wird, wünscht sich explizit, dass jemand ihnen vorliest.

Wie bedeutsam das Lesen ist, zeigen auch die Ergebnisse der jüngsten Pisastudie, in der die Bundesländer verglichen werden. Der Schwerpunkt lag diesmal auf den Naturwissenschaften, dort wurden auch gute Erfolge erzielt (siehe Seite 2). Aber bei der Lesekompetenz fällt die Bilanz nicht gut aus. Der Abstand zur internationalen Spitze bleibt, und im Land tut sich ebenfalls wenig. Auch sieben Jahre nach der ersten Pisastudie gibt es zehn Bundesländer, in denen die so genannte Risikogruppe unter den 15-Jährigen beim Lesen hoch ist: Es sind zwischen 20 und 28 Prozent der Schüler, die nicht richtig lesen können.

"Wissen Sie", beschrieb Pisa-Chef Manfred Prenzel diese Gruppe, "diese Schüler können Buchstaben schon entziffern. Aber sie können nicht sinnentnehmend lesen." Als jemand fragte, wie man diese Schüler beschreiben kann, sagte Prenzel: "Diese Schüler lesen auf Grundschulniveau." Auch die Kultusminister scheinen ehrlich besorgt zu sein. "Wir haben das Lesen als Problem", fasste der sachsen-anhaltische Bildungsminister Jan-Hendrik Olbertz die Ergebnisse zusammen - und empfahl bessere Leseförderung in den Schulen.

Genau da aber scheint es zuz haken. Laut der Lesetudie der Stiftung Lesen ist der neuralgische Punkt in der Bildungslaufbahn die Zeit nach der Einschulung. Eltern meinen, Kinder würden nun lieber selber lesen oder fänden Vorlesen blöd. Aber die Studie belegt: Kinder lieben Vorlesen, das in ihren Augen nichts mit ihrem Alter zu tun hat. Bekommen noch 90 Prozent der Kinder im Vorschulalter vorgelesen, sinkt dieser Wert nach der Einschulung fast auf die Hälfte ab. Und das, obwohl sich 33 Prozent derer, die nach der Einschulung nicht mehr vorgelesen bekommen, wünschen, dass ihnen jemand vorliest. Vorlese-Wunsch und Vorlese-Wirklichkeit klaffen auseinander. Dabei schätzen Kinder an der Vorlesesituation die Geborgenheit, die Gemeinschaft und die Möglichkeit, Fragen zu stellen weit mehr als den Umstand, dass sie nicht selber lesen müssen.

Schockierend sind die Zahlen, die die außerfamiliären Vorlesesituationen betreffen. Nur 2 Prozent der befragten Kinder gaben an, das ihnen häufig in der Kita oder in der Schule vorgelesen wird. Das ist wenig.

Dass es bei allen Altersgruppen durchweg die Mutter ist, die die Rolle der Vorlesefee übernimmt, verwundert nicht. Dass allerdings nur 8 Prozent der Kinder sagten, dass ihnen meistens ihr Vater vorlese, ist alarmierend. Wie die neueste Pisastudie belegt, sind die Jungen beim Lesen erneut die großen Verlierer. Der Mangel an männlichen Vorlese-Vorbildern dürfte dabei eine erhebliche Rolle spielen. Männer, ran an die Bücher! Neue Vorlese-Männer braucht das Land!

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