Debatte Diskriminierungen in Indien: Hinterhältige Verhätschelung

Indiens Politik schürt systematisch die Ressentiments zwischen Hindus und Muslimen. Muslime werden ökonomisch diskriminiert, genießen aber kulturelle Sonderrechte.

Der Schauplatz: ein Innenhof im Elphinstone College in Südbombay. Vor den malerisch angeleuchteten neugotischen Arkaden sitzen im Halbkreis einer Holzbühne etwa einhundert Leute. Es ist eine der zahlreichen Talkshows mit Publikumsbeteiligung, bei der Überlebende des jüngsten Terrorangriffs in Bombay zur Wort kommen. Angehörige von Opfern sitzen in den Zuschauerrängen gemeinsam mit Prominenten.

Besonders tut sich dabei die Society-Journalistin Simi Garewal hervor. Gegen Schluss ergreift sie das Wort und schürt gezielt antimuslimische Ressentiments. "Wisst ihr, was das größte Problem ist?", ruft sie ins Publikum hinein. "Kommen Sie mal mit mir auf das Dach des Four Seasons Hotel und schauen Sie auf die Slums hinunter. Die vielen Wimpel, die dort flattern, sind keine Fahnen der Kongresspartei oder der Shiv Sena (einer rechtsradikalen Lokalpartei). Es ist die Flagge von Pakistan." Die absichtliche Verwechslung des muslimischen Wimpels mit der Fahne Pakistans ist in Indien typisch für den Rassismus gegen Muslime. Die Zuschauer reagieren empört. Ein junger Mann entreißt der Moderatorin das Mikrofon und ruft, seinen Arm anklägerisch auf Garewal gerichtet: "Sie ist der Feind. Nicht die Terroristen. Sie ist der Feind. Sie zerstört unser Land."

Diese Szene ist emblematisch für die Feindseligkeit zwischen Hindus und Muslimen. Sie offenbart die enormen Probleme zwischen der Mehrheit der Hindus und der muslimischen Minderheit, die von der Politik gnadenlos ausgeschlachtet werden. Auf der einen Seite stehen die tief sitzenden Vorurteile vieler Hindus, die inzwischen salonfähig geworden sind, legitimiert durch den weltweiten islamistischen Terror. Auf der anderen Seite fällt die Reaktion der liberalen Hindus umso aggressiver aus, je stärker sie sich in die Ecke gedrängt sehen. Dazwischen steht die muslimische Minderheit, gleichzeitig dämonisiert und gehätschelt, Zielscheibe ihrer fanatischen Glaubensbrüder, der Vorurteile der radikalisierten Hindus, aber auch der Politiker, die sich zu Beschützern der bedrängten Gemeinschaft machen und sich damit ihre Stimmen kaufen.

Die Muslime sind die Volksgruppe mit dem schlechtesten sozioökonomischen Profil im indischen Gesellschaftstiegel, schlechter noch als die der Dalits. 38 Prozent rangieren offiziell "unter der Armutsgrenze", leben in den Slums im Schatten der Fünfsternehotels. Doch im Gegensatz zu den Dalits wird ihr Los kaum wahrgenommen. "Ist nicht Abdul Kalam, der letzte Staatspräsident, ein Muslim?", heißt es oft. Ist nicht Shahrukh Khan der berühmteste Bollywood-Star? Die muslimische Oberschicht ist jedoch hauchdünn, und sie vermeidet es sorgfältig, sich mit der muslimischen Kultur zu identifizieren. Stattdessen mischt sie sich unauffällig in die Ränge der globalisierten Eliten des Landes.

Bei Armee und Polizei, ebenso wie in Justiz und Universität, findet sich über die Hälfte weniger Muslime, als es ihrem Anteil in der Bevölkerung entsprechen würde. Ähnlich schlimm ist es um den Bildungsstand der Frauen bestellt. Hier sorgt aber nicht so sehr gesellschaftliches Misstrauen für die Randstellung, sondern die eigene patriarchalische Rückständigkeit.

Es ist nicht erst seit Ussama Bin Laden, dass die indischen Muslime unter Druck kommen. Sie tragen das Gewicht einer tausendjährigen Geschichte, von Invasionen unter der Flagge des Islam, von zerstörten Tempeln. Viele von ihnen sind selbst die Nachkommen von zwangsbekehrten Hindus. Das Trauma von 1947, als der Triumph der Unabhängigkeit vom Kolonialjoch ins Desaster der Spaltung des Landes mündete, hatte die Wunden wieder geöffnet, die Mahatma Gandhi mit dem Kampf für ein neues Indien zu heilen versucht hatte. Mit der Gründung Pakistans (und später von Bangladesch) wurde aus dem substanziellen Bevölkerungsanteil von 35 Prozent eine Minderheit von 13 Prozent, die ihrer traditionellen Führungsschichten entblößt, ins neue Gelobte Land auswanderten. Vier Nachbarkriege haben das schwelende Misstrauen am Leben erhalten, dass die indischen Muslime Pakistans "fünfte Kolonne" sind, dass sie mit den Wimpeln an ihren Moscheen die Flagge Pakistans hissen.

In einer Bevölkerung von nahezu 1,2 Milliarden machen die 13 Prozent Muslime über 160 Millionen Menschen aus und geben Indien den Rang des zweitgrößten muslimischen Landes der Welt (hinter Indonesien). Die Sorge um das Wohlergehen einer so großen Zahl von Bürgern, ebenso wie um deren politische Virulenz, hatte die Architekten der indischen Verfassung bewogen, den Minderheiten Vorzugsrechte einzuräumen. Dies gilt etwa bei den Persönlichkeitsrechten, die es einem männlichen Muslim gestatten, vier Frauen zu ehelichen oder mit einem simplen dreifachen "Talaq"-Spruch die Scheidung zu vollziehen.

Was für die radikalen Hindus eine Diskriminierung der Mehrheit ist, machte die Muslime für den Kongress zum sicheren Stimmenblock. Je stärker sie sich marginalisiert fühlten, desto mehr rückten sie zusammen, in den Ghettos der Altstadtquartiere, in den traditionellen Siedlungsgebieten auf dem Land. Dies hatte für die Kongresspartei genau kalkulierte politische Vorteile. Sie hat sich übrigens selbst zur Sprecherin des toleranten Hinduismus und zur Beschützerin der Minderheiten ernannt. Denn dank dem Majorzprinzip im indischen Wahlsystem, das den relativen Gewinner zum absoluten macht, können Muslime oft das Zünglein an der Waage spielen, das über Sieg oder Niederlage eines Kandidaten entscheidet.

Wer nun glaubte, dass sich die Minderheit mit den Mitteln der Demokratie gesellschaftliches Gehör und staatliche Förderung erkaufen würde, sah sich getäuscht. Die "säkularistischen" Parteien stellen sich bis heute oft genug hinter konservative Führungsfiguren, und statt Mädchenschulen subventionieren sie Pilgerreisen nach Mekka. Der politische Gegner, allen voran die Hindu-Nationalisten der BJP-Volkspartei, lässt sich diese Chance nicht entgehen: Sie geißeln, nicht zu Unrecht, den "Pseudosäkularismus" der Kongresspartei. Ihr gehe es nicht um die Emanzipation der Gemeinschaft, sondern um die Muslime als Stimmvieh. Je ärmer diese seien, desto abhängiger seien sie vom Schutz der Politiker.

Es grenzt an ein Wunder, dass sich die indischen Muslime unter diesen Umständen nicht noch stärker radikalisiert haben. Der Grund liegt zweifellos in der hinduistischen Kultur der religiösen Toleranz, die entsprechende Tendenzen des Islam - etwa den Sufismus - besonders gefördert hat. Über die Jahrhunderte haben sich hybride Formen nicht nur in der Religionsausübung, sondern auch in Musik, Sprache, Architektur und Kunst herausgebildet. Sie sind ebenso Teil eines gemeinsamen Erbes wie die Erinnerung an historische und zeitgenössische Wunden. Dies gilt gerade in Bombay, wo das gemeinsame Profitstreben einer Handelsstadt die hinduistischen und die muslimischen Geschäftskasten zusätzlich verbindet. Religiöse Toleranz, Kultur und ein Handelsethos sorgen immer noch dafür, dass sowohl islamistischer Bombenterror wie hindunationalistische Vorurteile sofort eine robuste und aufgeklärte Reaktion aus der Zivilgesellschaft provozieren.

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