Nach sieben Jahren Dunkelheit: Anja hat ein neues Leben

Sieben Jahre wurde Anja von ihrer Mutter im Dunkeln eingesperrt - ihre Befreiung im letzten Jahr war purer Zufall. Jetzt feiert das Mädchen ihr erstes Weihnachtsfest als Teil einer Familie.

In diesem Haus wurde Anja sieben Jahre versteckt. Bild: dpa

Artig kommt das kleine, blasse Mädchen an die Tür und streckt dem Besucher die Hand entgegen. "Anja", sagt sie und blickt neugierig, überhaupt nicht verunsichert. Die Neunjährige war über sieben Jahre lang in einem verdunkelten Raum auf einem heruntergekommenen Bauernhof im schwäbischen Bayersried eingesperrt. Sie hatte bis zu ihrem Auffinden 2007 nie das Tageslicht gesehen.

Die Aufdeckung: Am 14. Juni 2007 wird nach einem Hinweis aus der Bevölkerung in Bayersried in Bayrisch-Schwaben ein Mädchen nach siebenjähriger Gefangenschaft aus einem Zimmer befreit, in das es seit seiner Geburt eingesperrt war. Die Kriminalpolizei teilt nach Vernehmungen der Mutter mit, dass eine "persönliche Überforderung" der Grund dafür war, dass sie das Kind so lange versteckt hielt. Der Tod der eigenen Mutter, die Pflegebedürftigkeit des Vaters und die Weiterführung der elterlichen Landwirtschaft hätten die Frau dazu getrieben.

Das Mädchen: Erst von Amts wegen erhält die knapp Achtjährige einen Namen - Anja. Die Kleine hat starke Fehlbildungen und ihr Knochenbau ist äußerst schwach. Die Staatsanwaltschaft kann aber keine Spuren körperlicher Gewalt finden.

Die Verhandlung: Die Mutter bleibt auf freiem Fuß, erkrankt später schwer. Die Ermittlungen werden wegen Verhandlungsunfähigkeit im April 2008 zunächst eingestellt. Zwei Monate zuvor wurde der Kindsvater bereits zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

"Der Knochenbau ist nicht so, wie er sein sollte. Die Beinstellung ist nicht in Ordnung. Sie kann nicht richtig essen. Es ist fürchterlich." Mit diesen Worten hatte im Juni Bürgermeister Ewald Schmid im kleinen Rathaus von Ursberg, zu dem Bayersried gehört, den Reportern beschrieben, was kaum zu beschreiben war. Noch nie zuvor hatten Ärzte im weiten Umfeld, von Günzburg bis Augsburg so etwas gesehen.

Manchmal, so heißt es, habe man erzählt, dass hinter dem Fenster im ersten Stock des Bauernhauses schemenhaft ein Kindergesicht gesehen worden sei. Und nun gibt es dieses Gesicht tatsächlich. Die Haut ist anders als die ihrer "Schwester" - Anja ist noch immer ein wenig grau. Stefanie ist ein Jahr älter, sie hat sich immer eine Schwester oder einen Bruder gewünscht. Sie ist die Tochter der Pflegefamilie, bei der Anja seit knapp einem Jahr lebt. "Ja, die Familie hat das verändert, gravierend verändert", sagt Uschi. Sie ist Heilerziehungspflegerin im Dominikus-Ringeisen-Werk in Ursberg. "Ohne meinen Beruf und ohne meinen Arbeitgeber hätten wir es niemals bis hierhin geschafft." Sie ist dankbar, dass sie für die Pflege des Mädchens zunächst ein Jahr freigestellt wurde. Nun hat sie sogar noch ein weiteres Jahr bewilligt bekommen.

Zum ersten Mal gestattet die Familie einem Reporter, Anja und sie zu Hause zu besuchen. Dabei waren Heerscharen unterwegs gewesen, um das Kind aufzuspüren. "Einige haben herausgefunden, dass wir hier wohnen. Die sind in der Wiese gegenüber herangerobbt wie Soldaten bei einer Gefechtsübung", sagt Anjas Pflegevater Bernhard. Viel Geld wurde für ein Foto dieses Kindes geboten, das noch nie zuvor fotografiert wurde. Sie wollten es nicht. Sie wollten sich nur in Ruhe um das völlig verstörte Mädchen kümmern.

Die Kerzen brennen an dem runden Tisch im Esszimmer, um den die Familie sitzt. Eine Familie, die es geschafft hat, aus einem Kind, das den Unterschied zwischen Tag und Nacht nicht kannte, das nicht essen konnte, weil es nie zuvor etwas gekaut hat, ein kleines aufgewecktes Mädchen werden zu lassen, das selbst Fragen stellt. Wie alt der Reporter ist, ob er Kinder hat, will Anja wissen. "Wie ist die Haarfarbe deiner Tochter, deines Sohnes, deiner Frau. Hat sie lange Haare?" Von sich selbst spricht die Kleine in der dritten Person. "Anja will wissen …"

Neugierig ist sie, wissbegierig. Anjas Pflegemutter schaut dieses aufgeweckte Bündel Leben an, ein Blick, in dem sich ein Jahr kaum vorstellbarer Entbehrungen, ein Jahr ohne eine einzige ungestörte Nacht spiegelt.

"Wir fragen uns immer und immer wieder: Wie konnten sie das dem Kind antun? Und auch Anja fragt uns das ständig. Sie fragt uns täglich danach", sagt Pflegevater Bernhard. "Aber wir können ihr keine Antwort darauf geben, weil wir keine haben." Bernhard kennt Anjas Mutter. Sie ist seine Cousine. Nach einem Herzstillstand lag die Frau lange im Koma, rang mit dem Tod. Gesund wird sie wohl nie mehr, und so wird sie niemals erklären können, was auch nie zu erklären wäre. Und sie wird auch nicht, wie das mal angedacht war, nach langer Therapie ihre Tochter wieder aufnehmen. Bei ihren Vernehmungen sagte sie, sie sei froh, dass endlich alles vorbei sei. Die Frau ist nicht verhandlungsfähig, weshalb die zuständige Staatsanwaltschaft Memmingen das Ermittlungsverfahren gegen sie vorübergehend ruhen lässt.

Für die Pflegefamilie heißt das, dass aus der zeitlich begrenzten Hilfe für Anja eine Dauerbelastung werden könnte. Ob sie die aushalten, wissen sie nicht. Im Sommer gab es einen Moment, da wurde für Uschi alles zu viel. Vier- bis sechsmal musste sie jede Nacht raus, wenn das bleiche Mädchen im Halbschlaf laut schrie. Der Mann musste am Morgen zur Arbeit, die Tochter Stefanie zur Schule. Die Pflegemutter versuchte deshalb, nachtaus, nachtein das Leiden der kleinen Anja von ihrer Familie fernzuhalten. Bis sie selbst zusammenklappte. Da lag sie dann im Krankenhaus, und es sah so aus, als hätte das mehr als sieben Jahre währende Einsperren eines kleinen Mädchens in einem verwahrlosten Bauernhof noch ein weiteres Opfer gefordert: die Gesundheit einer schlanken, starken Frau.

Der Versuch, Anja eine Familie zu geben, schien ein für alle Mal gescheitert. Doch der Pflegevater und die zehnjährige "Schwester" hielten durch, besuchten die Mutter in der Klinik und kümmerten sich um Anja. "In dieser Zeit war es besonders schwer, dass sie einfach keine Gefühle zeigen kann, dass sie mir nicht einmal um den Hals gefallen ist", sagt die Pflegemutter.

"Ja, wir haben uns schon mehrmals gefragt, wie lange wir das durchhalten können", sagt Bernhard. "Aber dann kommt uns immer wieder, was schon alles erreicht wurde, in den Sinn." Und dann erzählt er von dem Moment, als er Anja das erste Mal sah - das Kind, das erst nach seinem Auffinden von Amts wegen einen Namen bekommen hat. "Diese Sekunde werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Das war in der Klinik, da sind mir die Tränen in die Augen geschossen. Da kam irgendetwas fürchterlich Blasses, etwas Weißes. Man kann ja nicht sagen, laufen. Sie konnte ja nicht richtig laufen - gekrümmt, klein, man kann sichs nicht vorstellen."

Die beiden Kinder sind während des Gesprächs ins Spielzimmer verschwunden und kehren nun wieder an den Esstisch zurück. "Anja, Schule geht, ja - Förderschule", sagt das Mädchen, das lange Zeit niemand berühren durfte. Anja besucht seit September die Förderschule. Sie lernt schnell. Sie kennt bereits die Wochentage und Monate. Aber ihr Sozialverhalten, das weiß die Heilerziehungspflegerin Uschi, will nicht mithalten mit dem Tempo, mit dem sie immer Neues erfährt und erfragt und erfragt. Manchmal hört sie gar nicht mehr auf zu fragen.

Es wird erahnbar, was diese Familie vom Weihnachtsfest 2007 - an dem Anja probeweise ein paar Tage hier war - bis Weihnachten 2008 erlebt hat. Die Blicke der Eltern suchen sich und als sie sich treffen, sind sie bei ihrer zehnjährigen Tochter. "Ich gehe halt in mein Zimmer, wenn es ganz schlimm wird", sagt Stefanie. "Manchmal ist es ganz schön anstrengend, aber manchmal gehen wir einfach ins Zimmer und kitzeln uns." Und dann meint sie, "es ist halt wie bei richtigen Geschwistern, die sich auch nicht immer mögen."

Aufgeben gilt nicht

Ewald Schmid, mittlerweile Bürgermeister in Pension, hat der Familie sehr geholfen, sagen Bernard und Uschi. Als der ganze bürokratische Hickhack immer mehr überhandnahm. Er ist noch heute für sie da, wenn abstruse Dinge von ihnen verlangt werden. "Jetzt sollen wir uns allen Ernstes auch noch darum kümmern, dass das Schulgeld fließt, das Geld für die Tagesstätte. Und bald kommen sie und wollen auch noch, dass wir das Geld für die Schulbegleitung eintreiben." Die, das ist das Landratsamt Günzburg, das sich auf die rechtliche Position stellt: Ihr seid Vormund. Dass Anja ein Leben lang Betreuung und Pflege braucht, ist die Schuld der leiblichen Eltern. Dennoch soll sich die Pflegefamilie allein um alles kümmern. "Bitte, nicht noch immer mehr und immer mehr draufpacken", sagt Pflegevater Bernhard.

Anja zupft den Reporter am Ärmel. Sie will die ganze Aufmerksamkeit. In abgehackten Worten erzählt sie, dass sie immer nur Milch bekommen hat, dort, wo sie bis zu ihrem Auffinden an diesem heißen Frühsommertag gelebt hat. Ist "gelebt" wirklich der passende Ausdruck? "Nein, wir werden das nie verstehen, was da passiert ist. Wir können nur versuchen, immer wieder nach vorn zu schauen, und wenn wir zurückschauen, dann nur, um uns vor Augen zu halten, wie Anja bei ihrem Auffinden beieinander war", sagt die Pflegemutter. Und ihr Mann, ein entschlossener Familienvater, dem man anmerkt, dass er weiß, wie man um seine Lieben kämpfen muss. Dieser Mann fährt sich mit dem Handrücken über die Augen. Da ist sie dann wieder, die Gewissheit: Wenn wir jetzt aufgeben, dann kommt dieses kleine Mädchen, das schon wieder am Ärmel zupft und gar nicht merkt, was im Moment in den Erwachsenen und in ihrer "Schwester" vorgeht, unweigerlich in ein Heim. Als Heilerziehungspflegerin weiß Uschi, dass ihr Pflegekind dort wohl nie mehr herauskommen würde.

"Ich bekomme ein Feuerwehrbuch und eine Flöte", antwortet Anja auf die Frage, ob sie sich schon auf das Christkind freut. Ihre Pflegeeltern blicken sich an. "Das hören wir zum ersten Mal, sie hat bislang nicht gesagt, was sie sich wünscht." Es wird ein Heiliger Abend wie bei vielen Familien in der Gegend. Die Wohnzimmertür wird bereits einen Tag vorher abgesperrt, das Zimmer bleibt dunkel, denn es steht ja schon der Christbaum drin. Ein Heiliger Abend, ähnlich vielen Weihnachtsfesten, aber trotzdem so ganz anders als in allen anderen Familien. Denn das Licht strahlt für das kleine Mädchen aus der Dunkelheit.

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