Jenseits von Angkor Wat: Kambodschas vergessene Moderne

Nur noch wenige Bauwerke legen in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh Zeugnis ab von einer Zeit des Idealismus und Fortschrittsglaubens.

Das olympische Stadion in Phnom Phen Bild: Moritz Henning

Die Tempelruinen von Angkor - zu Kambodscha fällt den meisten Urlaubern zunächst wenig mehr ein. Und allzu häufig ist das auch alles, was Touristen von Kambodscha sehen. Schade eigentlich, gibt es doch in diesem kleinen Land im Schatten von Thailand und Vietnam viel mehr zu entdecken. Zum Beispiel eine ganz einzigartige Architektur, die zwischen 1953 und 1970 in einer Ära des Idealismus und Fortschrittsglaubens entstand. Man muss sich allerdings beeilen, um noch etwas davon zu sehen.

Unser Fahrer liefert uns in der Hauptstadt der Khmer-Moderne vor einem mannshohen Bauzaun ab. Viel war von Deutschland aus nicht zu erfahren über den Zustand eines der, so sagt man, schönsten Bauwerke des „Goldenen Zeitalters“ - dem Preah-Suramarit-National-Theater in Phnom Penh. 1968 eingeweiht, zerstörte 1994 ein Brand den Zuschauerraum, eine Theatergruppe probte weiter in der ausgebrannten Hülle. Wir zwängen uns durch einen Spalt im Zaun, da sind wir schon nicht mehr allein, und wir sind unerwünscht. Die Lage ist eindeutig: Arbeiter zerlegen Stück für Stück, was noch übrig ist von der Pracht. Viel mehr als Schutt ist nicht geblieben vom einstigen kulturellen Aushängeschild des aufstrebenden Kambodschas. Die Situation droht zu eskalieren. Wir treten den Rückzug an.

Dieses Erlebnis ist symptomatisch: Was immer dem Kommerz im Wege steht, wird abgeräumt. Die Illustrationen auf den allgegenwärtigen Bauzäunen vermitteln eine Vorstellung davon, was stattdessen in naher Zukunft die Stadt beherrschen wird: Soap-Opera-Kulissen wechseln sich mit Hochhäusern nach amerikanisch-chinesischem Vorbild ab.

Dabei schien das Land einmal einen ganz anderen Weg zu nehmen: Nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft 1953 forcierte Staatsoberhaupt Prinz Norodom Sihanouk mit einer beispiellosen Modernisierung des Landes den Anschluss an internationale Entwicklungen. Bahnhöfe, Schulen und Ministerien wurden aus dem Boden gestampft. Damit einher ging das Bekenntnis zu einer Architektursprache, die dem Aufbruch in eine neue Gesellschaft angemessen erschien. In diesen Jahren der kulturellen Blüte reifte eine Architektur heran, die die Ideen der europäischen Moderne mit lokalen Bautraditionen zu einer spezifisch kambodschanischen Moderne verschmolz. „Wir konnten Dinge nicht einfach so wiederholen, wie sie in Europa einmal gemacht wurden. Wir mussten mit neuen Ideen denken und mit einem kambodschanischen Blick“, kommentierte der in Paris ausgebildete und 1957 von Sihanouk zum Chefarchitekten ernannte Vann Molyvann einmal. Er setzte diesen Gedanken konsequent um. Ihm und einer Reihe weiterer Planer ist es zu verdanken, dass das Land heute über ein einzigartiges architektonisches Erbe verfügt. Nachdem die Schreckensjahre des Vietnamkriegs und die Diktatur der Roten Khmer von 1975 bis 1979 längst überstanden sind, strömen wieder Touristen ins Land. Kambodscha modernisiert sich, und für die Überbleibsel dieser euphorischen Jahre wird es eng.

Während einige wenige im Land mittlerweile den Prunk der Kolonialzeit schätzen - wenn auch meist nur wegen der Touristen -, hat die „Khmer-Moderne“ kaum Fürsprecher. Nicht zuletzt die politische Situation der letzten 30 Jahre hat dazu geführt, dass es kaum ein Bewusstsein für Gestaltung gibt. Bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 30 Euro kämpfen viele ums schiere Überleben. Korruption und Gewalt sind allgegenwärtig. Die Prioritäten der Bevölkerung sind andere. Nur ein paar wenige verdienen prächtig - am Ausverkauf des Landes. Einige der wertvollsten Bauten sind so schon verloren, viele weitere akut bedroht. Vom einstmals so erfolgreichen Dreiklang aus politischem Willen, engagierten Planern und Fortschrittsglauben ist wenig geblieben.

Angeblich einer Kopfbedeckung nachempfunden: Die Bibliothek des Institute for Foreign Languages Bild: Moritz Henning

Zu zeigen, was es noch gibt, ist das Anliegen von Stefanie Irmer. Die Berlinerin lebt seit acht Jahren in Phnom Penh. Mit einer Hand voll einheimischer Guides, meist junger Architekten, veranstaltet sie Touren zu den architektonischen Highlights. „Obwohl wir spezielle Preise für Einheimische anbieten, kommen zunehmend Ausländer.“ Geld verdient sie damit kaum, sie macht es aus Engagement. Mit Infos versorgt machen wir uns auf den Weg. Unser Tuk-Tuk-Fahrer chauffiert uns - nicht ohne vorher sein Unverständnis über unsere Ziele zum Ausdruck zu bringen - durch die Stadt. Wir fühlen uns wie Entdecker.

Zu unerwartet ist, was wir sehen. Aus dem Gewühl der Gassen erhebt sich der National Sports Complex mit Stadion mit Sportfeldern, Schwimmbecken und riesiger Sporthalle wie einst die Tempelanlagen von Angkor aus der Natur in strenger Geometrie. Wasserbecken, gespeist vom auf den Dachflächen gesammelten Regen, umringen die Halle. Vom obersten Rang genießen wir den atemberaubenden Blick über das imposante Gebäude vor der Kulisse der Stadt. Ganz anders das Institute for Foreign Languages: Es besteht aus einer raumgreifenden Komposition mehrerer nach funktionalistischen Prinzipien unterschiedlich gestalteter Baukörper. Die skurrile Bibliothek, deren Form angeblich von einer traditionellen Kopfbedeckung abgeleitet ist, eine Reihe von Hörsälen, die auf Stelzen stehend und wie Tiere aufgereiht an einer Tränke wirken, und das Hauptgebäude mit der in ihrer Gestaltungswut fast barock anmutenden Fassade werden über einen über das Gelände abgehobenen Rundgang verbunden. Der zentrale Zugang erfolgt über einen mehrere hundert Meter langen Brückenweg, an dessen Ende man das Hauptgebäude betritt: Zwei Nagas-Schlangenwesen überwachen die Übergänge. Dies ist eine klare Referenz an die kilometerlange Passage von Angkor Wat. Wir schlendern durch die kühlen Flure und fragen uns, wozu Klimaanlagen erfunden wurden. Geschickt angebrachte Lamellenkonstruktionen schützen vor der tropischen Sonne und reflektieren gedämpftes Licht in die Räume. Elektrisches Licht brennt nirgendwo. Gleich nebenan steht die Versammlungshalle der Royal University of Phnom Penh. Ihre innovative Schalenkonstruktion ist ein beeindruckendes Zeugnis von Ingenieurskunst und Gestaltungskompetenz dieser Zeit. Beide Gebäude sind Bestandteil eines mithilfe französischer, russischer und chinesischer Planer ab 1960 an der Straße zum Flughafen errichteten Universitätscampus, auf dem sich noch eine ganze Reihe weiterer interessanter Bauten erkunden lassen.

Bald tun uns die Füße weh. Wir fahren zurück in die Stadt zur Chaktomuk Conference Hall am Ufer des Tonle Sap. Als Vorbild für den Grundriss der Veranstaltungshalle diente ein Palmblatt - eine Pflanze, die bis heute das Bild Kambodschas prägt. Im Licht der untergehenden Sonne verbreitet die frisch renovierte Halle fast schon heitere Stimmung.

Mehrmals im Monat führen Khmer Architecture Tours Besucher durch die Stadt.

Unter www.ka-tours.org kann man sich einen Stadtplan von Phnom Penh zur Erkundung auf eigene Faust herunterladen.

Literaturtipps: Helen Grant Ross und Darryl Collins: "Building Cambodia - New Khmer Architecture 1953-1970". Es ist das bisher einzige Buch über interessante Bauten und ihre Architekten und bietet einen umfassenden Überblick darüber im ganzen Land.

Ly Daravuth und Ingrid Muan: "Cultures of Independence. An introduction to Cambodian Arts and Culture in the 1950s and 1960s". Dieses Buch beschreibt anschaulich die Kunst-, Kultur- und Musikszene des "Goldenen Zeitalters".

Aber nicht nur solch singuläre Bauten gibt es zu bestaunen. Je länger wir in den nächsten Tagen durch die Straßen streunen, desto sensibler wird unser Auge. Überall entdecken wir Kleinode der Khmer-Moderne: Kinos, Cafés oder auch Autohäuser. Es gibt ganze Straßenzüge mit wohltuend zurückhaltend wirkenden Wohn- und Geschäftshäusern der 1960er-Jahre in moderater Bauhöhe von vier bis fünf Geschossen.

Den an den minimalistischen Kuben der europäischen Moderne geschulten Blick mag manches an all diesen Gebäuden irritieren. Bei näherem Hinsehen offenbart sich diese Architektur jedoch als einzigartiger Kosmos. Und etwas anderes wird uns noch klar: Viele dieser Gebäude thematisieren mit ihren kühlenden Wasserbecken, den aufgeständerten Häusern oder den intelligenten Sonnenschutzvorrichtungen bereits, was in Europa gegenwärtig als nachhaltiges oder klimagerechtes Bauen in aller Munde ist. Wir spüren das unmittelbar: Während man in den neuen Shopping Malls beim Betreten nahezu schockgefrostet wird, wollen wir die angenehm kühlen Räume der Khmer-Moderne gar nicht wieder verlassen.

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