Rückblick auf Argentinien in der Krise: Als Papa abhaute

Bank verschwunden? Der Staatspräsident per Hubschrauber geflohen? Anarchie? Der argentinische Schriftsteller Ariel Magnus hat 2002 hautnah erlebt, wie es sich anfühlt, wenn ein Staat wirklich pleite ist.

So sah das aus im Jahr 2002: Kunden stehen Schlange vor einer Bank in Buenos Aires. Bild: dpa

PATAGONIEN taz "Absolut sicher". Mit diesen Worten, die auf Deutsch besonders glaubhaft klingen, wollte mich vor einigen Jahren ein gepflegter Bankangestellter der Berliner Sparkasse überreden, meine gesamten Ersparnisse in Immobilienfonds zu investieren. Der Überzeugungs-Joker meines unerwünschten Beraters (ich habe nicht um Rat gebeten, ich wollte mein Geld einfach anderswo als unter der Matratze aufheben) war der Staat. Nichts konnte schiefgehen, denn der Staat galt als Absicherungsgarantie meiner Investition. Der junge Mann sprach vom Staat wie ein Kind von seinem Papa. Allerdings einer, der ihn nie im Stich lassen konnte. Absolut Papa.

Die Finanzkrise Ende 2001 hatte mehrere Gründe: Ein verfehltes Krisenmanagement des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Kopplung des Peso an den Dollar, eine enorme Schuldenrate, eine negative Handelsbilanz. Weil große Teile der Wirtschaft vom Ausland abhängig waren, wurde das Land sehr anfällig für Spekulationen. Auslöser war dann das von Präsident Cavallo eingeführte "corralito" (Zäunchen), das eine Obergrenze von 250 Peso die Woche für das Abheben von Bargeld von Girokonten vorsieht. Erstmals wurde damals eine Diskussion über die Reformierung der internationalen Finanzarchitektur geführt.

Es war Anfang 2002, gerade war der Euro eingeführt worden. Vor nur wenigen Monaten war der Staat in meinem Land, Argentinien, pleitegegangen. Absolut pleite. Anzeichen dafür gab es viele, und es war nicht das erste Mal, dass das Land in eine tiefe Krise sank - der Schock war trotzdem erheblich.

Es ist schwer einzusehen, dass nicht mal der letzte Garant weiter zahlungsfähig ist. Als ob man das Fahrrad an einer Laterne gesichert hätte und bei der Rückkehr entdeckt, dass nicht nur das Fahrrad, sondern auch die Laterne weg ist. Wenn nicht nur das Angebundene, sondern das, woran es festgemacht wurde, selbst von Wind verweht wird, was bleibt dann noch stehen?

Ein Jahrzehnt lang, also ungefähr so lang, wie es jetzt den Euro gibt, hatte Argentinien, so versicherte man uns, eine starke Währung. Zumindest innerhalb seiner Grenzen war jeder Peso einen Dollar wert. Als die Krise kam, gab der Finanzminister bekannt: Wer in Dollars anlegte, wird Dollars wiederkriegen. Das konnte nur eines heißen: Vergiss es! In der Tat wurden alle Dollars auf den Konten automatisch auf Pesos umgestellt. Dadurch verloren sich zwei Drittel ihres Wertes. Als ob von heute auf morgen - bloß ein Gedankenspiel, bitte keine Panik! - alle Euros auf den Privatkonten in Mark zurückgestellt würden. Mit dem Unterschied, dass man jetzt für jede Mark nicht wieder einen Euro, sondern nur 30 Cent bekäme.

Wie damals für uns die deutschen Haushaltsgeräte oder die US-amerikanischen Medikamente werden hier nun der venezolanische Sprit, das argentinische Fleisch und das chinesische Allesmögliche dreimal so teuer. Dreist, oder?

Und das war nicht das Schlimmste. Denn selbst wenn jemand die Reste seines Vermögens aus der Bank retten wollte, stand ihm sein Geld nicht zur Verfügung. Ähnlich wie vor wenigen Tagen in Island - kein Gedankenspiel in diesem Fall, aber es ist doch ein Land ganz im Norden, offenbar betreffen diese Probleme nur Nationen in Erdpolnähe - verhängte die Regierung zu der Zeit ganz im Süden eine Sperre auf die Privatkonten: Man durfte nur ein paar hundert Pesos pro Woche abheben, gerade so viel, um sich zu ernähren. Um eines aber machte uns die Krise reicher: Das Wort "corralito" (Zäunchen) gewann eine zusätzliche Bedeutung.

Heute denkt dabei niemand mehr an einen Kinderzaun, sondern eher an eine Sperre für den kindischen Glauben an eine absolute Sicherheit.

Wie nach einem Flugzeugabsturz, so kamen auch hier plötzlich alle Privatgeschichten zu Tage. Nur dass in diesem Falle fast jeder im Flugzeug saß: die Lehrerin, die sich gerade den Wunsch erfüllen wollte, einmal nach Disneyland zu fliegen. Die Familie, die gerade ihr Haus verkaufte und im Begriff war, ein Neues zu kaufen, das Geld aber vorsichtshalber noch bei der Bank liegen hatte. Der Taxifahrer, der jahrelang gespart hatte, um seine kranke Tochter im Ausland operieren zu lassen. Mein Freund Julián, der sich gerade einen Mac kaufen wollte. Auf einmal nahm Geld seine wahre Gestalt an: Es war all das, was wir versäumt hatten, vorher zu machen. Nicht Zeit war Geld, sondern Geld war Zeit, und zwar verlorene.

Die Mittelschicht entdeckte sich als politische Gruppe. Man sang das inzwischen klassische "¡Que se vayan todos!" ("Alle sollen weg!") gegen Politiker aller Parteien, während man durch die sommerlichen Straßen demonstrierte, machte alle Lichter zu einer gewissen Uhrzeit aus und klopfte eifrig auf die eigenen Küchentöpfe. Dies führte zu weiteren Gewinnen in Sachen Wortschatz: "apagón" (Stromausfall) wurde zu einem Kampfwort, während "cacerolazo" (Topfschlagen) für immer auf dem Soundtrack der Revolution der Kontoinhaber bleiben wird. Die "Alles, nur nicht mein Sparkonto"-Partei organisierte später auch Tausch-Flohmärkte mitten in der Stadt und "asambleas" (Volksversammlungen) in den Barrios. Auf einmal herrschte so etwas wie ein gemeinschaftliches Gefühl im Land, als hätten wir endlich wieder eine Weltmeisterschaft gewonnen. Und als wäre uns im Nachhinein die Trophäe unrechtmäßig geraubt worden.

Außer den Politikern galt die Wut natürlich auch den Banken, staatlichen wie privaten. Ihre Fassaden wurden mit allem Möglichen verschmutzt, von Eiern und Spucke bis Farbe und Kot.

Berühmt wurde ein Mann, der mit Sonnenschirm und Liegestuhl, Sandalen und Badehose seine Ferien vor seiner Bank verbringen wollte, nachdem das Geld für die wirkliche Reise ferner als der Strand selbst lag. Lehre Nr. 1 in einer Finanzkrise: Man lasse sich den Humor nicht nehmen. Die meisten Menschen aber waren empört. Vor allem darüber, dass sie den Räubern ihre Beute mehr oder weniger freiwillig ausgehändigt hatten.

Mein Vater, der ähnliche Abwertungen schon früher erlebt hatte und der anscheinend ein besseres Gedächtnis als der Durchschnitt besitzt, belehrte mich schon als Kind: Man solle das Geld nicht auf eine argentinische Bank tun, und vor allem niemals in Pesos. Misstrauen ist gut, Vermeiden ist besser. Was kann ein so schlecht erzogenes Kind, eine so schlecht erzogene Nation von Bank, Währung und Staat halten?

Peso heißt eigentlich Gewicht. Das Wort soll offenbar der Währung eine gewisse Schwere verleihen. Doch es ist die Unbeständigkeit der Währung, die letzten Endes das Wort jeder festen Bedeutung beraubt.

Lehre Nr. 2: Auch die massivsten Begriffe verlieren während einer Finanzkrise an Speck - ob sie nun Staat heißen, Sparkasse, absolut oder sicher. Die Proteste verloren allerdings nicht an Kraft. Sogar McDonalds-Filialen wurden attackiert, als ahnte man schon damals, woher die Krise wirklich kam (also von Landsleuten, die gute Geschäfte mit Auslandskapital machten).

Ende Dezember 2001 kam es dann zu massiven Plünderungen und Straßenkämpfen mit der Polizei, die zu vielen Toten führten. Der Präsident musste fliehen, im etymologischen Sinne: Er nahm einen Helikopter direkt vom Dach des Regierungssitzes, um den wütenden Massen auf der Straße aus dem Weg zu gehen. In den letzten Tagen dieses Schicksalsjahres hatte das Land mehrere Regierungschefs nacheinander, deren erster Verwaltungsakt ihre eigene Kündigung war.

Und während Neujahr hatten wir überhaupt keinen Präsidenten. Kurios: Niemand hat ihn vermisst.

Lehre Nr. 3 könnte deswegen heißen: Bloß nicht die Ruhe da unten bewahren, wenn man da oben was umrühren will. Aus diesem aufgewühlten, an den Rand der Anarchie geratenen Land kam ich gerade zurück, als ich meine unfreiwillige Beratungsstunde in der Berliner Sparkasse hatte. Ich fasste diese Erlebnisse in einer raschen Schilderung zusammen, um meinem Finanzexperten nahe zu bringen, warum ich ein wenig sensibilisiert war gegenüber Banken, Anlagen und Papa Staat.

"Tja, mein Freund", grinste mich der Fachmann mit der Selbstgefälligkeit eines Erdenbewohners erster Klasse an: "Sie müssen wissen, Deutschland ist nicht Argentinien." Und da hatte er natürlich Recht: Argentinien ist groß und an Ressourcen reich genug, um alle seine Einwohner üppig zu ernähren, was eine Krise noch unwahrscheinlicher als in Deutschland machen sollte. Wir verabschiedeten uns voneinander, ohne Einigung und voll des Bedauerns, und schon eilte er zur nächsten Kundin, einer alte Dame, die er absolut sicher reingelegt hat.

In den letzen Monaten habe ich häufig an jenen Berater gedacht. Vielleicht auch er an mich. Die Weltkrise hat Deutschland ein wenig näher an Argentinien rücken lassen, zumindest teilen wir jetzt dieselbe Welt. Eine Welt, so doof es auch klingen mag, in der die einzige Sicherheit darin besteht, dass es keine Sicherheiten gibt. Weniger Marketing und etwas mehr Plato-Lektüre hätte ihn das schon früher lehren und ihm große Verluste ersparen können. Denn ich gehe davon aus, dass er selbst seine gesamten Ersparnisse in Immobilienfonds investiert hat. Sonst müsste ich denken, er sei ein Zyniker, und zwar nicht im griechisch-philosophischen Sinne.

Ich nehme inzwischen aber an, er war einfach geldgierig und skrupellos. Wie auch seine alten und nicht so alten Kunden, die sich niemals fragten, wieso sie mit ihrem Geld mehr Geld machten, ohne es zu verdienen. Für sie alle sollte die Krise in Argentinien als Gebrauchsanweisung für die beginnende Weltkrise dienen.

Endlich können wir die Moralisten sein, die Besserwisser. So wie Europa in Sachen Menschenrechte Vorlesungen hält, so wollen ausnahmsweise auch mal wir, die ärmeren Länder dieser Welt, einmal auch klugscheißerisch das gute Beispiel abgeben.

Und sollte jemand das Gefühl haben, dies alles klinge irgendwie nach unangebrachter, fieser, kindischer Schadenfreude, dann lautet die Antwort ist: Tja, mein Freund, absolut.

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