Kolumne Speckgürtel: Voll ostig

Ja, in der DDR gab es kaum schwarze Pullover. Aber ist das ein Grund, nicht zu wissen, wann die Mauer fiel?

Die Pubertistin kann so charmant sein. Erst kürzlich forderte sie mich in barschem Ton auf, augenblicklich "diesen voll hässlichen Ost-Pullover" auszuziehen und gegen angemessene Kleidung zu tauschen. Ob ich noch nicht bemerkt hätte, dass vor zwanzig Jahren die Mauer gefallen sei? Ich schaute sie ob dieser Unverschämtheit so perplex an, dass sie offenbar ins Grübeln kam. "Oder sind es zehn Jahre?", stotterte sie.

Nun ist es so, dass es in der größten DDR der Welt tatsächlich jede Menge Scheußlichkeiten zu kaufen gab. Mir will es heute nicht mehr in den Kopf, wie viel Zeit, Geld und Organisationstalent ich damals darauf verwendet habe, um - nur mal zum Beispiel - einen schwarzen Pullover in meinen Besitz zu bringen. Einen, auf den keine engagierte Facharbeiterin für Obertrikotagen ein Kätzchen, Blümchen oder das Wort FETZIG appliziert hatte. Nur schwarz sollte er sein, sonst nichts. Gleiches galt für Schuhe, Hosen, Unterwäsche und so weiter. Schlichte Eleganz war einfach nicht die Sache der Konsumgüterproduktion östlich der Elbe.

Es mag an dieser ästhetischen Mangelernährung liegen, dass ich noch heute in Geschäften wie eine Gestörte auf die dunklen Pullover, Hosen, Röcke zumarschiere. Egal, welche Farbe - Hauptsache ein schönes Schwarz. Ja, mag sein, dass ich noch immer nicht allzu farbenprächtig gekleidet bin. Aber rechtfertigt das das rotzige Auftreten der Pubertistin? Außerdem könnte sie sich wirklich endlich mal gemerkt haben, wann die Mauer gefallen ist.

Es fällt mir dennoch einigermaßen schwer, ihr böse zu sein. Denn woher soll das Kind wissen, wie die Menschen im späteren Beitrittsgebiet gelebt haben? Wie er aussah, der Kampf der Systeme im Jugendmodebereich? Und ist das denn wichtig, zu wissen, wann die Mauer gefallen ist? Wann sich also das Leben der Mutter komplett verändert hat? Nein, das muss die Pubertistin nicht wissen. Denn das hätte sie ja im zurückliegenden Schulhalbjahr lernen sollen. "Deutsche Teilung - Demokratie und Diktatur" steht im Rahmenplan für das Fach Geschichte, "Politische Systeme und Herrschaft, Alltag und Menschenrechte" haben die fleißigen Bildungspolitiker für ihre 15- bis 16-jährigen Landeskinder vorgesehen.

Aber dazu ist es nicht gekommen. Auf dem Halbjahreszeugnis der kleinen Bundesbürgerin findet sich folgende Bemerkungen: "In dem Fach Geschichte konnte der Unterricht aus schulorganisatorischen Gründen nicht in dem Umfang erteilt werden, der eine Beurteilung der Leistung ermöglicht." Im Klartext: Ihre Tochter hatte keinen Geschichtsunterricht, sorry!

Der Pubertistinnenvater und ich waren einigermaßen fassungslos. Auf unsere strenge Einvernahme hin nörgelte das Kind, es habe Geschichte halt nicht gehabt, na und? Da wäre kurz nach den Sommerferien eine Lehrerin eingetrudelt, aber nur für zwei Wochen. Im Laufe der folgenden fünf Monate habe es eben keinen Geschichtsunterricht mehr gegeben. Warum sie uns das nicht erzählt habe? Wir hätten eh nur rumgemeckert, dass sie die Freistunden in der nahegelegenen Schnellrestaurantkette verbracht hat.

Ja Wahnsinn, ist die clever. Wer braucht schon Geschichtsunterricht? Reicht es nicht völlig aus, zu wissen, dass die Mauer irgendwann gefallen ist? Das Jahr kann man ja googeln. Schwierig könnte es für sie allerdings in drei Monaten werden. Dann nämlich hat die Pubertistin Abschlussprüfung, landesweit einheitliche wohlgemerkt. Kaum anzunehmen, dass die klugen Köpfe, die die Prüfungsaufgaben auswählen, diesmal nicht auch die eine oder andere Frage zum Zeitraum "20. Jahrhundert bis zur Gegenwart" haben werden. Ihre Rücksicht darauf, dass ihre Kollegen vom Schulamt ihren Job nicht gemacht haben, wird sich in eher engen Grenzen halten. Und die Hoffnung der Pubertistin, nur gefragt zu werden, was die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik für Pullover getragen haben (a. voll hässlich oder b. schlicht elegant), wird sich aller Voraussicht auch im Wendejubiläumsjahr nicht erfüllen.

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1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.

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