Debatte Postkapitalismus (I): Primitive Akkumulation

Komplexeste Finanzinstrumente wurden entwickelt, um die Ersparnisse von Geringverdienern abzuschöpfen. Jetzt ist der Moment, auszusteigen.

Seit 1980 zählt es zu den bemerkenswerten Dingen unserer Zeit, dass wir mit extrem komplexen Finanzinstrumenten arbeiten. Und zwar zum Zwecke einer ausgesprochen primitiven Akkumulation.

GERHARD SCHERHORN (VI):

Finanzkapital rettet die Banken

BARBARA DRIBBUSCH (V):

Schwarzer Schwan

ANKE DOMSCHEIT (IV):

Die neuen Trümmerfrauen

RUDOLF WALTHER (III):

Innenausstatter mit Ethik gefragt

ULRIKE HERRMANN (II):

Wie schrumpft man eine Bank?

Nachdem sie Hunderttausende Arbeitsplätze in Niedriglohnländer ausgelagert haben, begannen die Konzerne mithilfe von enorm teuren und enorm talentierten Experten die komplexesten Organisationsformate zu erschaffen. Und wofür? Um Arbeitskraft zu einem maximal niedrigen Preis einzukaufen. Perfiderweise wurden die Millionen eingesparter Cents in Shareholder-Gewinne umgewandelt.

Zugespitzt gesagt: Die Finanzwirtschaft war und ist darauf aus, die kärglichen Erspanisse der kleinen Haushalte abzuschöpfen. Und zwar indem sie die Kreditkartenfinanzierung ausgebaut hat und - weit gravierender - indem sie jedem den Besitz eines Eigenheims in Aussicht stellte. So viele Kreditkartenbesitzer und Hypothekenbesitzer wie möglich sollten mit einer Darlehen versorgt werden. Ob die Schuldner die aufgenommene Hypothek oder ihre Kreditkartenrechnung abzahlen konnten, war dabei nachrangig. Denn sind die Darlehen erst mal in Wertpapiere zusammengefasst, sind sie von den einzelnen Personen unabhängig.

Milliarden über Milliarden Profit wurden auf diese Weise den Haushalten mit kleinen Einkommen abgetrotzt. In den USA werden schätzungsweise 10 bis 12 Millionen Haushalte im Laufe der nächsten vier Jahre ihre Hypothek nicht begleichen können. Das heißt: Unter den gegebenen Bedingungen werden auch sie ihre Häuser verlieren.

Um aus diesem kapitalistischen System auszusteigen, bleibt uns nur, unsere Ökonomien zu "entfinanzialisieren". In anderen Worten: den Finanzmarkt zu schrumpfen. Das ist die größte Herausforderung.

Heute ist die Verschuldung der USA höher als während der Depression in den 30er-Jahren. 1929 betrug sie etwa 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), und 260 Prozent im Jahr 1932. Im September 2008 summierte sie sich auf gigantische 62 Billionen US-Dollar. Das ist mehr als das BIP sämtlicher Länder weltweit zusammen. Das wird derzeit mit 54 Billionen berechnet. Damit nicht genug: Die ausstehenden Derivate beziffern die unvorstellbare Summe von 640 Billionen US-Dollar. Das ist dann gleich 14-mal das BIP der Welt.

Nach aktuellen Schätzungen sind weltweit 50 Millionen Menschen erwerbslos. Zwei Milliarden Menschen leben in gnadenloser Armut. Wie viele Jobs würden geschaffen, setzten wir uns zum Ziel, diese Menschen mit Nahrung und einem Dach über dem Kopf zu versorgen!

Die zentrale Frage ist daher: Erleichtert uns die Finanzkrise den Übergang in eine neue soziale Ordnung? Zumindest könnte sie dabei helfen, dass wir uns wieder auf die Arbeit konzentrieren, die tatsächlich gesellschaftlich unverzichtbar ist. Etwa Menschen mit Wohnraum zu versorgen, die Trinkwasserversorgung zu sichern, Gebäude sowie Städte insgesamt klimaverträglich zu gestalten, eine nachhaltige Landwirtschaft zu entwickeln und jedem eine Krankenversicherung zu verschaffen. Investieren wir in diese Tätigkeiten, dann erhalten alle, die arbeiten wollen, einen Job.

Die Geschichte lehrt, dass eine von Gewinnmaximierung angetriebene Marktökonomie nicht dazu führen wird, dass wir unsere Zielsetzungen in diesem Sinne reformulieren. Doch die Geschichte hat auch gezeigt, dass eine bestimmte Mischung von gut funktionierenden Märkten und einem starken Wohlfahrtsstaat bislang zu den besten Ergebnissen geführt hat. Siehe Skandinavien. Und obwohl auch in den skandinavischen Gesellschaften die Ungerechtigkeit zunimmt; noch lassen die Regierungen dort ihre Leute nicht einfach fallen.

Stellen wir uns also vor, wir begreifen nur die Tätigkeit als Arbeit, die tatsächlich benötigt wird. Wir würden eine ökonomische Sphäre betreten, die sich radikal von der der hohen Finanzwelt unterscheidet. Außerdem könnten wir viel Geld sparen. Um ein Beispiel zu geben: Die gegenwärtige Debatte in Westeuropa und in den USA um die Rettungsmöglichkeiten der Finanzwelt scheint nur finanzielle Lösungen in Betracht zu ziehen. Und finanzielle Lösungen bedeuten Billionen von Dollars oder Euros. Viele Billionen. Um unsere Arbeitsmärkte zu stärken, jedoch benötigten wir "nur" Milliarden.

Das gilt selbst für ein so riesiges Land wie die USA. 2007 etwa wurden 26 Prozent der insgesamt 599.893 Brücken in den USA als baufällig eingestuft: Rund 20 Milliarden wären nötig, um sie zu reparieren. Stattdessen haben wir 8 Billionen Dollar in unsere Banken gepumpt, ohne dass die Finanzkrise damit abgewendet werden konnte. Selbst angesichts einer bestenfalls mediokren Infrastruktur wie in den USA gehen Kosten für ihre Instandsetzung in die Milliarden und nicht in die Billionen.

Wenn Barack Obama besagte marode Infrastruktur nun ausbessern lassen möchte ebenso wie das Bildungssystem und die Krankenversorgung, dann weisen seine Worte grundsätzlich in die richtige Richtung. Unverständlich bleibt jedoch, wie er Larry Summer und Timothy Geithner zu seinen beiden Wirtschaftszaren ernennen konnte. Als Kopf der NY Fed hätte Geithner die Krise längst kommen sehen müssen. Er hätte sich, zum Beispiel, mit dem rasanten Wachstum des shadowbankings beschäftigen können. Also mit den Bankgeschäften, die in keiner Bilanz auftauchen. Immerhin machen diese 70 Prozent des globalen Finanzsystems aus. Stattdessen hat die Financial Times die entsprechenden Untersuchungen angestellt.

Jetzt ist der Moment, radikal neue Wege zu beschreiten. Natürlich müssen alle weiterhin Schulden machen können, egal ob es sich um eine Firma, einen einzelnen Haushalt oder ein Land handelt. Doch auf diesem Niveau? Nein. Folglich bleibt nichts, als endlich das Banksystem zu regulieren. Und wir müssen mehr Arbeitsplätze schaffen.

Damit wären wir beim nächsten Punkt. Seit einigen Jahrzehnten verfügt die Welt über die Technologie, Krankheiten auszurotten, von denen weltweit Millionen von Menschen betroffen sind. Ebenso verfügen wir über die Kapazitäten, um ausreichend Nahrung für alle zu produzieren. Doch statt diese Ressourcen zu nutzen, ist das Gegenteil der Fall: Millionen von Menschen sterben an vermeidbaren Krankheiten und noch mehr hungern. Während Armut früher bedeutete, ein Fitzelchen Land zu besitzen, das recht und schlecht die eigene Grundversorgung sicherstellte, bedeutet Armut heute, nicht mehr als den eigenen Körper zu besitzen. Sowohl im armen Süden als auch in den reichen Industrieländern hat sich Armut radikal verschärft. Wir sehen uns einer erhöhten Ungleichheit gegenüber, mit einer neuen globalen Klasse der Superreichen und der zunehmenden Verarmung der früheren Mittelschicht. Das Anschwellen der Finanzmärkte über die letzten dreißig Jahre hinweg hat die negativen Effekte, welche die Logik der Profitmaximierung mit sich bringt, massiv verschärft.

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