Kolumne Parallelgesellschaft: Amok und andere Kontaktaufnahmen

Was Winnenden nicht mit Neukölln gemein hat und warum die Jugend als solche überhaupt okay ist.

Gar nicht auszudenken!, wäre das, was die erschreckte Nation vorige Woche aus Winnenden berichtet bekam, in Neukölln passiert. Allah, steh einem bei, aber die Fantasie, das hätte sich rund um die Rütlischule zugetragen, an einer Hauptschule, der Täter mit einem Vornamen versehen, der nicht klassisch deutsch klingt, das möchte man sich, zumal im gediegen-bürgerlichen Neukölln wohnend, gar nicht ausmalen.

Die Deutungsmaschinen hätten sich nicht nur einzuhaken versucht bei Themen wie Sportwaffen und Computerspiele. Sondern mit Worten Biss gefunden an Fantasien über Migration, Unterschicht, schlechter Ernährung, zerrütteten Familien und unzulänglicher Religion. In Winnenden konnten selbst Spuren dieser möglichen Aspirationen nicht gefunden werden - die Familie unauffällig, die Umgebung astrein, das Haus sogar, wie es in einer Zeitung stand, auf eine gewisse Wohlhabenheit deutend, und zwischen den Zeilen war da wohl der Neid der Nachbarn auf die fette Präsentation der sogenannten Täterfamilie zu spüren.

Irgendwie hatten mich die Meldungen aus Winnenden dennoch nicht berührt; irgendwie war es mir einerlei, was in den anschließenden Diskursversuchen geplappert werden würde. Bei Will, Kerner und Maischberger redete man so vor sich hin, wie es gerade geeignet schien. Das war klar, und so kam es auch.

Wie auch immer die Experten heißen, sie wissen immer Bescheid und haben auf alles einen Reim, auch wenn es einen schüttelt und rüttelt vor Erstaunen, woher die so alles wissen, was sie zu sagen belieben. Am Ende bleibt immer: Wir wissen es auch nicht. Dabei ist das meiste überhaupt nicht falsch, was zum Amoklauf in Winnenden gesagt wurde. Aber auch nicht richtig, was die Sache verschlimmert. Jugendliche mögen sich in vielen Bekundungen erkannt haben. Dass die Welt immer komplexer wird, dass die Anforderungen steigen und niemand auf einen wartet und willkommen heißt. Aber ist das nicht immer und überall so gewesen? Hatte nicht schon Goethes Werther die Welt so empfunden? Salingers Holden Caulfield, Hesses Jungmänner? Nämlich als ungerecht und übererwachsen und spießig und festherzig? Eine Welt, die einsam macht und tiefunglücklich? Die keinen Sinn hat für die pubertierenden Nöte, die ein Pubertierender natürlich niemals so benennen würde, er (oder, viel seltener, sie) würde in eigener Sache vom Schmerz über das Ganze sprechen, wenn überhaupt.

All diese Spurenleserei wird nie zum gleichen Erfolg führen wie irgendeine Aufgabe, die in einer beliebigen CSI-Folge aufgegeben wird, bei der ein Ermittlerteam in einem Schutthaufen von atomisiert wirkenden Indizien die wahre Täterschaft herausdestilliert. Könnte es nicht so sein: Erwachsene machen sich dauernd Gedanken über das, was Jugendliche so anrichten, besonders gern dann, wenn einer dieser Heranwachsenden etwas macht, was verboten ist wie nichts anderes verboten sein kann? Und dass Jugendliche unentwegt sich ausprobieren, riskierend, dass die Welt der Volljährigen, Eltern, Lehrer, Nachbarn, das nicht versteht? Dass Jugendliche sich eingeweiht fühlen in das, was sie für den Lauf der Welt halten und alarmiert, wie es jugendlichen Gemütern zusteht, auf die Pauke hauen?

Bitte? Das sei eine obszöne, die Opfer des Amoklaufs vom Rande der Schwäbischen Alb verhöhnende Interpretation? Dass der Jugendliche in Winnenden nichts gemein hat mit Gleichaltrigen - in Erfurt, Littlewood und anderswo -, die einfach nur schlecht gelaunt sind, vergrübelt und verrätselt wirkend?

Ja, dann ist das wohl so, obszön. Seis drum. Jugendlichkeit hat immer etwas Anmaßendes. Der Täter von Winnenden hat diese Idee der möglichen Allmacht einfach ausprobiert, als ob nicht alle Jugendlichen wenig bedenken, was sie tun: Ist doch eh alles wurscht, wenn die Welt schon nicht verstehen will. Jugendlichsein ist ein irrer Lebensabschnitt, ausgerüstet mit einem absoluten Gefühl von Durchblick und minimalster Macht, diesen auch zu Gehör zu bringen. Von tragödischen Ausnahmen abgesehen.

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Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Kurator des taz lab und des taz Talk. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders der Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. Er ist auch noch HSV-, inzwischen besonders RB Leipzig-Fan. Und er ist verheiratet seit 2011 mit dem Historiker Rainer Nicolaysen aus Hamburg.

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