„Bei Neukölln muss einem das Herz aufgehen“

PERSPEKTIVWECHSEL Wenn von Berlin-Neukölln die Rede ist, denken fast alle an riesige Probleme. Dabei macht der Bezirk Spaß, sagt sein Bürgermeister Heinz Buschkowsky. Ein Gespräch über Weltkulturerbe im Kiez, die Zukunft mit Minaretten und den Konsum von Kirsch-Whiskey

■ Werdegang: Geboren 1948, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, machte eine Ausbildung zum Diplomverwaltungswirt und trat der SPD bei. Seit späten Siebzigern arbeitete er sich in der Neuköllner Bezirkspolitik nach oben, vom SPD-Fraktionschef bis zum Bezirksstadtrat. Seit 2001 ist er dort Bürgermeister.

■ Provokationen: Bundesweit bekannt wurde Buschkowsky durch provokante Äußerungen wie „Multikulti ist gescheitert“ im Jahr 2004. Auch 2009 klopfte er mit einer Äußerung auf den Putz: Mehr Geld für Eltern, die ihre Kinder nicht in die Kita schicken? Schlechte Idee, so Buschkowsky: „In der deutschen Unterschicht wird es versoffen, und in der migrantischen Unterschicht kommt die Oma aus der Heimat zum Erziehen, wenn überhaupt.“

INTERVIEW JAN FEDDERSEN

Dieser Bezirksbürgermeister residiert in einem imposanten Rathaus. Das aus der Gründerzeit stammende Gebäude wirkt nicht wie eine Behörde, eher wie ein Schloss. Im ersten Stock steht Heinz Buschkowskys Schreibtisch. Er kann direkt auf die Avenue seines Bezirks, die Karl-Marx-Straße, gucken – und er sagt, er tue das gern. Buschkowsky, mit Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit in herzlicher Abneigung verbunden, ist eher klein, wuchtig von Statur, trägt Anzug und Schlips – und ist ein aufgeschklossener Mensch. Er trinkt während des Gesprächs Tee. Sein Lieblingsgetränk, erzählt er, ist aber Champagner. Er sagt, er habe nur zwei Privilegien in seinem Amt: „Eine eigene Toilette und einen Dienstwagen.“

taz: Herr Buschkowsky, lassen Sie uns nur über die schönen Seiten von Neukölln sprechen, okay?

Heinz Buschkowsky: Das ist mal ein völlig neuer Gesprächsansatz.

Wirklich? Und wie! Sonst kommen die Leute zu mir nur, um Schmuddelkram zu hören. Und ich verpasse ihnen dann doch einen Werbeblock über Neukölln. Der erscheint aber nie.

Dafür alles Problematische.

Okay, ich bin derjenige, der recht freimütig die Leute hinter die Kulissen blicken lässt, wie es in einem solchen sozialen Brennpunkt wirklich zugeht. Und darin baden die Leute sich.

Sie sind ziemlich präsent, neulich erst bei „Maischberger“ und auf N24. Sie sind ein Star geworden, oder?

Den Begriff Star würde ich nicht gelten lassen. Ich bin Bezirksbürgermeister, ich wirke als Anwalt der Neuköllner Bevölkerung. Und das so effektiv wie möglich.

Vielleicht ein Staranwalt? Ganz ehrlich, diese Talkshows machen richtig Arbeit. Wenn ich zum Beispiel bei „Maischberger“ bin, dann heißt das sechs Stunden Anfahrt mit dem Wagen und nach der Aufzeichnung noch in der Nacht zurück. Nach drei Stunden Schlaf sitze ich um halb neun wieder im Termin und frage mich dann schon manchmal: Warum tust du dir das an?

Aber Sie tun es sich doch an. Ich sage mehr Termine ab, als ich annehme. Die Diskussion ums Betreuungsgeld allerdings habe ich provoziert, die ist mir nicht passiert. Die wollte ich. Ich gestehe den Vorsatz.

Schwarz-Gelb plant, Eltern Geld zu zahlen, wenn sie ihre Kinder nicht in die Kita schicken, sondern zu Hause erziehen. „In der deutschen Unterschicht wird es versoffen“, haben Sie dazu gesagt. Was hat Sie daran so aufgebracht?

Bei diesem Quatsch könnte ich wieder zum Juso werden! Weil diese Herdprämie einfach nur rückschrittlich ist. So was können doch intelligente Menschen nicht machen!

Kann die Bundesregierung wohl doch.

Die muss doch wissen, dass nach den neuesten Zahlen in der Bundesrepublik 25 Prozent der Kinder nichtausbildungsfähig die Schule verlassen. An Ihre Kinder will ich gar nicht ran, Sie sehen mir nicht erziehungsüberfordert aus. Das ist doch wie bei Ephraim Kishons „Blaumilchkanal“ – eine Behörde macht auf, die andere macht zu.

Was meinen Sie damit? Erst im vorigen Jahr ist unter der gleichen Kanzlerin der Rechtsanspruch der Ein- bis Dreijährigen auf einen Kita-Platz mit 12 Milliarden Folgekosten geschaffen worden. Wir schicken hier Stadtteilmütter mit Kopftuch und der Botschaft in die Familien: Öffnet eure Türen, macht einen Sprachkurs bei der Volkshochschule und schickt euer Kind in die Kita. Und dann kommt jetzt die Bundesregierung und sagt mit der Herdprämie: Lass deine Tür zu, schick dein Kind wieder zu Oma und kassier auch noch 150 Euro. Das ist doch so irre, dafür kann ich überhaupt keine Worte finden. Und dann im gleichen Atemzug über Verwahrlosung von Jugendlichen reden und von Verschärfung des Jugendstrafrechts.

Herr Buschkowsky, was ist denn nun schön an Neukölln?

Dass es unheimlich spannend ist und abwechslungsreich. Ich bin da vielleicht auch der falsche Mentor oder der falsche Doktorvater, aber ich hab Neukölln mit der Muttermilch eingesogen.

Erzählen Sie!

Für mich sind soziale Spannungen und unterschiedliche Lebenswelten völlig normal. Das war schon vor vierzig Jahren so, dass es im Norden Neuköllns etwas rauer zuging als im etwas betulicheren Rudow, wo ich aufgewachsen bin. Und wenn man als junger Mensch mit achtzehn, neunzehn dem falschen Mann am Tresen das Bier umkippte, hat man schon immer ein Problem gehabt. Mir ist diese Welt hier nicht fremd, dieses Handfeste. Die Oberschicht hat nie in Neukölln gewohnt. Hier wohnen höchstens die Söhne und die Töchter der Oberschicht, als Studenten.

Inzwischen, in Kreuzkölln.

Weil sie die Mieten im Prenzlauer Berg nicht mehr bezahlen können. Aber ist ja auch egal, soll so sein, sie sind herzlich willkommen. Aber damit treiben sie natürlich auch die Mieten hoch und schieben’s dann dem sozialen Stadtteilquartiersmanagement in die Schuhe.

Wie sah das Neukölln Ihrer Kindertage aus?

Hier im Norden wohnte Maurer Ede, der deutsche Facharbeiter, der Hilfsarbeiter, mit mehr oder minder Intellekt. Von vier Straßenecken waren drei eine Kneipe, freitags war Lohntütenball, und Mutti musste aufpassen, dass er noch genug Geld mit nach Hause bringt.

Sie wuchsen in Rudow auf …

„Natürlich geht mir manches auf den Zünder. Dinge, die die Welt nicht braucht, hat Neukölln reichlich“

… da waren Felder, auf denen habe ich für die Bauern Kartoffeln gestoppelt für Geld. Die Lebensverhältnisse nach dem Krieg waren karg. Wenn mein Bruder und ich neue Mäntel oder Schuhe für den Winter brauchten, mussten meine Eltern einen Warenkurzkredit aufnehmen, um das zu bezahlen.

So knapp war es?

Geld war nicht da. Und Fernseher in jedem Haushalt gab’s nicht. In unserer Straße gab es eine alte Frau, die hatte einen Fernseher, und da durften die Kinder der Straße am Nachmittag kommen und eine Stunde lang Kindersendungen anschauen.

Und im Norden Neuköllns um den Hermannplatz?

Hinterhöfe, Wohnungen mit Toilette eine halbe Treppe tiefer oder gar auf dem Hof. Sozialer Aufstieg, um zu den Feinerleut zu gehören, definierte sich dadurch, dass es einem irgendwann gelang, im Vorderhaus zu wohnen. In die neuen Trabantensiedlungen wie Neuköllns Gropiusstadt zogen die Deutschen aus der Innenstadt. Jeder ein eigenes Bad, jeder einen eigenen Balkon, jeder eigene Sonnenstrahlen.

Und die leeren Altbauten?

In die zogen die Gastarbeiter mit ihren Familien. Mit großer Zustimmung.

Wie haben Sie die ersten Ausländer gesehen?

Der erste, den ich kennenlernte, war der Pizzabäcker in der Fuldastraße. Und dann noch der Jugoslawe – das ist ein Geheimtipp gewesen: Warst du schon mal jugoslawisch essen? Jugoslawisch musste essen gehen, da wirste satt. So war es auch. Nirgends gab es so viel Fleisch. Ich lernte, was Cevapcici und Slibovitz sind und ähnliche Sachen.

Klingt doch gut.

Meine Erfahrungen mit Ausländern waren geprägt von einem Gewinn an Lebensqualität, wie zum Beispiel Pizzaessen. Wir hatten nicht das Geld, in eine deutsche Gaststätte zu gehen, um Schnitzel zu bestellen. Als junger Mensch ging man nicht in ein Restaurant. Heute geht man in die Bäckerei zum Frühstücken, weil die Menschen zu faul sind, sich zu Hause ein Brot zu schmieren oder einen Kaffee zu kochen. Wenn ich morgens zum Rathaus fahre, sind die Frischbackstuben voll mit Menschen, die meist dann noch darüber klagen, dass sie zu wenig Geld haben. Ich bringe mir meine Stullen nach wie vor von zu Hause mit zur Arbeit.

Wie war es denn für Sie als junger Mensch?

Als ich Lehrling war, musste ich um 5:35 Uhr zur Straßenbahn rennen, um 7:23 Uhr begann mein Dienst. Ganz pünktlich. Der Büroleiter stand am Eingang, den er um 7:23 Uhr verließ. Und jeder, der danach kam, musste zu ihm und erklären, warum er nicht pünktlich war. Jede zweite Straßenbahn fuhr durch, weil sie voll war, die Leute hatten ja keine Autos, und wenn ich sagte, mir ist die Straßenbahn weggefahren, kam der Hinweis: „Dann müssen Sie eine früher nehmen.“ So war das damals.

Ändern sich die Zeiten nicht auch zum Guten?

Da bin ich mit Ihnen d’accord. Aber ist die Menschenwürde abhängig davon, welchen Konsumstatus ein Land hat? Das würde ich aber energisch bestreiten.

Hätten Sie die Menschen gern sparsamer?

Bewusster. Bewusster, in welchem Wohlstand wir leben. Und dass jeder sich einbringen muss, um ihn zu erhalten. Ich gebe zu, ich habe eine sehr, sehr starke Distanz zu Menschen, die sich in den Sessel setzen und sagen: Bespiel mich mal. Ich meine damit nicht die Fälle, wo das Schicksal zuschlägt, wo eine Familie drei Kinder hat und der Vater am Arbeitsplatz oder im Straßenverkehr verunglückt oder das Schicksal sonst irgendwie grausam zuschlägt. Ich habe aber etwas gegen Menschen, die das soziale Netz, das durch Sie, durch mich und durch meine Sekretärin geknüpft ist, als ihre einzige Lebensgrundlage adaptieren. Ich bin groß geworden damit, dass ein Mensch zu etwas nutze sein muss. Ich bin aber auch nicht erzogen worden mit dem Grundsatz: Du darfst nicht lachen, feiern, saufen, Blödsinn machen.

Sie wissen, wovon Sie sprechen?

Ich habe fast alles ausgetestet, was ein Mensch in seinem Leben austesten kann. Hab meine Alkoholerfahrungen gemacht, als junger Pubertierender, Kirsch-Whiskey war damals angesagt. Danach aß man schneller auf als runter. Das meine ich also nicht. Die Menschen, die mir auf die Nerven gehen, sollen nicht in die Askese. Ich sage nicht, dass das hier das Land ist, wo Milch und Honig fließen. Als wir aus finanziellen Gründen den Bücherei-Bus einstellen mussten, hat das im Bezirksamt niemandem Spaß gemacht. Anschließend bekam ich einen Brief von einer Mutter: „Wenn mein Kind jetzt nicht lesen und schreiben lernt, dann sind Sie schuld. Wer soll denn jetzt mit dem Kind in die Stadtbücherei fahren und die Bücher holen?“ Da habe ich ihr zurückgeschrieben: „Sie als Mutter, wer denn sonst?“ Es gibt für diese Vollkaskomentalität so viele Beispiele.

Der Bezirk: Auch Bürgermeister Heinz Buschkowsky wird nicht müde zu betonen: Neukölln ist mehr als nur der neuhippe Szenekiez Kreuzkölln und die Rütli-Schule: Mit über 300.000 Einwohnern ist der Berliner Bezirk Neukölln größer als die meisten deutschen Städte. Menschen aus 162 Nationen leben hier. Die Arbeitslosenquote liegt seit Jahren um die 25 Prozent. Der Bezirk zählt zu den Ärmsten im ohnehin schon wenig wohlhabenden Berlin – jeder zweite Neuköllner lebte im Jahr 2006 von weniger als 700 Euro im Monat.

Die Kieze: In Nordneukölln schlägt die Gentrifizierung derzeit voll zu: Immer mehr Studenten, Kreative und Milchkaffeeconnaisseure sickern in den Bezirk. Dieses Gebiet ist noch heute stark von den vielen Menschen mit Migrationshintergrund geprägt. Viel weniger von ihnen wohnen in den eingemeindeten Dörfern Britz, Buckow und Rudow: Hier ist das Stadtbild bürgerlicher und weniger metropol geprägt. Außerdem gehört die Gropiusstadt mit ihren Hochhäusern seit den Sechzigerjahren zu Neukölln.

Herr Buschkowsky, Hand aufs Herz: Könnten Sie Ihren Job auch in Paderborn oder in Berlin-Reinickendorf machen?

Nein nein. Ich bin Neuköllner.

Was lieben Sie denn an Neukölln?

Ich habe vorhin schon versucht, es Ihnen zu erklären. Es ist einfach lebendig, bunt, manchmal anstrengend, aber auch schön.

Das heißt, eigentlich finden Sie, dass die Migranten hier zu recht sind.

Was heißt denn zu recht oder unrecht? Sie sind da. Die meisten haben wir angeworben, sie haben uns nicht überfallen. Die Gesellschaft hat sich so entwickelt. Man muss das Leben nehmen, wie es ist. Aber man darf es nicht so lassen. Wissen Sie, ich gehe in Schulen hier im Norden und versuche jungen Menschen, die die deutsche Sprache nur radebrechend sprechen, klarzumachen, dass sie die Grundrechenarten beherrschen müssen, wenn sie Friseuse werden wollen. Ich gehe aber auch ins Weihnachtskonzert des Albert-Einstein-Gymnasiums und erfreue mich an jungen Leuten, die Spaß daran haben, Leistung zu zeigen.

Erbauliches in Neukölln?

Gott sei Dank! Wissen Sie, was passiert, wenn Sie sich nur unten bewegen? Die Subkultur wird zur Norm und zur Suggestion, dass sie der Maßstab der Normalität ist. Das ist genauso falsch wie gefährlich. Deswegen muss ich auch hin und wieder ins Albert-Einstein-Gymnasium. Und deswegen sanieren wir den Gutshof Britz, damit Leute Spaß haben an ihrem schönen Neukölln, damit sie nicht nur immer in der [Boulevardzeitung] B.Z. lesen, dass es Jugendbanden gibt, die es gar nicht gibt. Und dass die Autobuslinien in Neukölln Hasslinien sind. Völliger Quatsch.

Wollen Sie nun beschönigen?

Ich doch nicht! Nein, es macht Spaß, hier zu leben, und dieses Neukölln von heute macht auch Spaß. Wenn man das Geschichtsbuch aufschlägt, sieht man, dass die Welt zum Teil gar nicht denkbar ist ohne Neukölln. Hier ist die Perinatalmedizin erfunden worden, ein Spezialgebiet der geburtshilflichen Gynäkologie. Die implantierbaren Herzschrittmacher entwickelten Schaldach und Professor Bücherl. Der moderne Sport entstand dank Turnvater Jahn in der Hasenheide. Reformer wie Karsen und Löwenstein, Städtebauer wie die Gebrüder Taut und Kiehl haben hier gewirkt, die Musikschulbewegung und Arbeiterabiturkurse hatten hier ihren Ursprung. Die Hufeisensiedlung gehört zum Weltkulturerbe. Wir haben eine doppelte Olympiasiegerin mit Britta Steffen, welcher Bezirk hat das schon? Wir haben eine eigene Oper, ein Boulevardtheater mit dem Heimathafen, wir haben das erfolgreichste Hotel Deutschlands, das böhmische Dorf und das Schloss Britz. Da geht einem doch das Herz auf.

Das klingt schon besser.

Natürlich geht mir auch manches auf den Zünder. Dinge, die die Welt nicht braucht, hat Neukölln reichlich. Ich finde das nicht schön, wenn meine Frau nach Hause kommt und erzählt, dass sie heute wieder zweimal an einer roten Ampel ein Fortpflanzungsangebot erhalten hat. Warum sehen so viele im Auto nach vorne und schauen nicht nach links und rechts? Weil neben ihnen ein Auto mit einer Gruppe junger Männer steht, die nur darauf warten, in den bekannten Dialog einzutreten: „Hast du ein Problem, können wir gleich lösen. Ich mach dich Rollstuhl, ich schwör!“ Ich wette, auch Sie kennen solche Situationen.

Haben Sie eigentlich auch Freunde auf der Straße?

Ich kann Ihnen sagen, ich bürgere alle vierzehn Tage hier die Menschen persönlich ein, mit Handschlag, und rede mit jedem zwei Sätze. Wenn ich über die Straße gehe, passiert es schon, dass jemand auf mich zukommt und sagt: „Hey, erkennst du mich? Du hast mich eingebürgert, hast mir die Urkunde gegeben, vor vier Wochen. Jetzt habe ich meinen deutschen Ausweis. Klasse. Geht es dir gut?“ Ich kann mich hier auf der Straße sehen lassen. Auch bei meinen Streetfightern, ich kenne sie ja. Sie sagen: „Bürgermeister, hast du Feinde? Sag Bescheid, wir kämpfen für dich.“ So sind sie hier.

„Wer das Geschichtsbuch aufschlägt, sieht, dass die Welt zum Teil gar nicht denkbar ist ohne Neukölln“

Herr Buschkowsky, Hand aufs Herz: Wofür kämpfen Sie eigentlich?

Ich kämpfe für die Kinder, die nicht oder nur unregelmäßig in die Schule geschickt werden. Die mit der Jeans über die Schlafanzughose gezogen eine Viertelstunde zu spät zum Unterricht kommen, weil sie zu Hause niemand weckt. Auch diese Kinder müssen in unserer Gesellschaft eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben bekommen.

Was würden Sie mit einer Milliarde Euro, die Sie hier in Neukölln extra zur Verfügung hätten, anstellen?

Sie würden die Neuköllner Schulen nicht wiedererkennen. Es wären alles Ganztagsschulen, an jeder Schule wären Sozialarbeiter, die nach Hause gehen und fragen: Wo ist dein Kind heute, warum ist es nicht in der Schule? Und wenn sie die Antwort kriegen, meine Tochter soll eine gute Frau und Mutter werden, was braucht sie da die Schule, würde ich sagen, dann warte am nächsten Ersten vergebens auf dein Kindergeld.

Schroffe Worte …

… man muss deutlich sein, sonst wird man nicht ernst genommen. Ich sage Ihnen, auf wie viel Weihnachtsfeiern ich inzwischen Stellung genommen habe zu der Minarettabstimmung in der Schweiz. Meine Rede fängt immer wie folgt an: Meine Damen und Herren, wir sind ein Bezirk mit fast 150.000 Migranten, da kommt man nicht vorbei an der Entscheidung, die die Schweizer getroffen haben, die Minarette zu verbieten. Beifall. Ich frage aber: Ist das eine kluge Entscheidung gewesen? – „Ja!“ antwortet es aus dem Publikum. – Ich sage: „Nein. Der Islam ist da, und er wird bleiben. Wenn ich Menschen die Gotteshäuser verbiete, dann wird das ewig ein Stachel im Fleisch sein. Wir müssen die unterstützen, die für einen modernen, reformierten Islam kämpfen.“ Dann ist immer Schweigen im Saal. Das wollen die Leute nicht hören. Aber wenn ich es Ihnen sage, hören sie zu.

Sagen Sie uns zum Abschluss doch bitte in drei kurzen Sätzen: Was macht Sie in Neukölln glücklich?

Mein Job. Und dass das Schicksal mich an diese Stelle gesetzt hat. Mich macht glücklich, dass es immer mehr Menschen gibt, insbesondere unter den Migranten, die sagen, wir machen mit, Bürgermeister, wir müssen gemeinsam gegen die Bildungsferne vorgehen, wir müssen intervenieren, wenn Eltern ihren Kindern die Zukunft rauben …

und drittens?

Ja … dass ich hier leben darf. Neukölln macht Spaß.

Jan Feddersen, 52, ist taz-Redakteur für besondere Aufgaben und wohnt seit 13 Jahren gern in Neukölln