Nur Weihnachten in die Kirche: verlogen?
Ja

CHRISTMETTE Weihnachten sind die Kirchen oft überfüllt, denn viele Menschen besuchen genau einmal im Jahr einen Gottesdienst – der Kinder oder der Festlichkeit wegen

Rudolf Ladwig, 47, ist Vorstandsmitglied des Bund der Konfessionslosen und AtheistenEs ist verlogen, zu behaupten, Weihnachten hätte nur etwas mit Kirchen zu tun. Weihnachten gehört nicht den Kirchen, nicht mal den Christen. Diese haben ihre Jesusmythe nur auf die vorchristlichen Wintersonnenwendfeste datiert. Ein Teil des so okkupierten Festes ist auch gar nicht altehrwürdig. Der Adventskranz stammt aus dem 19. Jahrhundert und die Karriere der Weihnachtsbäume gelang erst durch den Krieg von 1870.

Der weihnachtliche Kirchenbesuch wird genau so konsumiert wie anderes. Gewaltphrasen der Bibel verschwinden, ebenso Menschrechtsverletzungen der Kirchen durch deren besonderes Arbeitsrecht, durch Diskriminierung von Frauen und sexuellen Minderheiten.

Der Harmoniewahn dieses Familienfestes überfordert viele Menschen auch völlig. Jeder Sechste gibt gar zu, dass dies die Zeit des Familienstreites ist. Qualifiziert streiten, denken und argumentieren wird nicht gelehrt, stattdessen religiöse Märchen eingeübt. Das ist die Crux mit Gottesdiensten.

Andreas Suttor, 43, ist Berater, taz.de-User und hat das Thema online kommentiertNatürlich ist es verlogen, nur an Weihnachten in den Gottesdienst zu gehen. Schließlich geht es dabei nicht um den Besuch irgendeiner Belustigungsveranstaltung, sondern um die rituelle gemeinschaftliche Durchführung von Kulthandlungen. Und das sollte nur tun, wer sich mit dem dahinter stehenden Kult auch identifizieren kann.

Die Begründung, dass das Begehen des Weihnachtsfestes zu unserer kulturellen Identität gehört, ist falsch. Das Weihnachtsfest ist ja nicht zufällig so nah an der heidnischen Wintersonnwendfeier gelegen – neue Religionen neigen einfach dazu, althergebrachte Feiertermine zu übernehmen, um das Konvertieren zu erleichtern. Ganz davon abgesehen, besuchen viele Leute gerade im ländlichen Raum die Kirche nicht aus einem inneren Bedürfnis heraus, sondern um zu sehen und gesehen zu werden.

Eine Lösung kann ich allerdings auch nicht anbieten – denn schon der immer latent vorhandene Missionierungsdrang zwingt die Kirchen, ihre Türen für alle zu öffnen, um bei dieser Gelegenheit vielleicht doch noch das eine oder andere verlorene oder auch noch nie zugehörige Schäfchen wieder in den Schoß der Mutter Kirche zu holen. Aus dieser Perspektive wäre es vielleicht zweckmäßiger, wenn die regelmäßigen Kirchgänger dem Weihnachtsgottesdienst fernbleiben würden – um Platz für Nachwuchsgläubige zu schaffen.

Christian Tietgen , 16, ist Schüler, taz.de-User und hat das Thema online kommentiertJa, es ist verlogen. Wenn ich mir das Krippenspiel angucken möchte, dann muss ich nicht gerade am 24. Dezember in die Kirche gehen. Ich bin nicht gläubig, aber wenn ich gläubig wäre, würde ich mich freuen, in der Kirche auf Gleichgesinnte zu treffen. Die Realität sieht aber anders aus: Sonst gehen nicht mal die Gläubigen regelmäßig in die Kirche und zu Weihnachten meinen alle, es wäre ihre bürgerliche Pflicht, in die Kirche zu gehen.

Stattdessen sollte man sich aber mit den Leuten treffen, mit denen man sich wirklich gut versteht, es ist doch „das Fest der Liebe“. Wenn die Kirchen überfüllt sind, verliert das Ganze irgendwie seine Ernsthaftigkeit. Schließlich wünschen sich die Kinder, die das Krippenspiel spielen, sicher auch, dass ihnen viele Menschen interessiert zuschauen, statt das Ganze als Veranstaltung zu begreifen.

Zudem kann ich nicht nachvollziehen, warum so viele Menschen dort hingehen. Viele haben nur ein schlechtes Gewissen, weil sie es als Pflichtveranstaltung betrachten, und langweilen sich womöglich zu Tode.

Vielleicht sollten die Kirchen zukünftig überprüfen, wen sie alles reinlassen, oder die Zahl der Familienangehörigen begrenzen. Ich finde es nämlich eine lächerliche Vorstellung, die Kirche nur mit Angehörigen der Kinder zu besetzen. Das ist auch überflüssig. Man kann sich auch zu Hause treffen, um zu vermeiden, dass die Kirchen überfüllt sind.

Nein

Katrin Göring-Eckardt, 43, ist grüne Bundestagsabgeordnete und Präses der Synode der EKDIch persönlich freue mich immer über jede und jeden, der über die Schwelle der Kirchentür tritt. Zu Weihnachten wie an einem ganz normalen Sonntag im Jahr.

Die Kirchentüren sind offen, für alle Menschen. Jesus hat seinerzeit, als diejenigen, die eigentlich eingeladen waren, nicht kamen, die von den „Hecken und Zäunen“ an den Tisch geholt.

Deswegen ist auch die christliche Botschaft alles andere als exklusiv für regelmäßige Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes. Und die sich auf den Weg machen, wollen sicher ganz Unterschiedliches. Die einen suchen eine Pause, die anderen ein Ritual. Jemand hofft, dass das, was geschieht, mit dem eigenen Leben zu tun hat. Man kann es kitschig finden, dass die bekannten Lieder gesungen werden. Aber Menschen, die sich davon berühren lassen, gehen reicher, als sie kamen. Kinder erfahren etwas von der Geschichte der Geburt Jesu. Die Erinnerungen an die eigene Kindheit dürfen eine Rolle spielen und die Hoffnung auf ein Wort, das in die Seele dringt und die Zukunft heller scheinen lässt. Manch einer geht einfach nur mit, mit Kindern oder Eltern, mit Freunden. Und vielleicht wird spürbar, dass Gottes Liebe etwas für das Leben in der Welt bedeutet: für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

Carsten Frerk, 63, war im Sommer einer der Organisatoren der „Atheistenbus“-Kampagne Wenn Menschen aus der Kirche ausgetreten sind und trotzdem Weihnachten noch zur Kirche gehen, finde ich es verlogen. Ich selbst kenne aber solche Menschen nicht und gehe selber Weihnachten auch nicht in die Kirche.

Sonst ist es natürlich nicht verlogen: Schließlich zahlen Kirchenmitglieder über das Jahr mehrere Hundert Euro Kirchensteuer – das ist ein hohes Eintrittsgeld für so ein Event. Und Weihnachten ist ja nichts anderes: ein mehrtägiges Brimborium mit Orgelklang, Tannenbaum und Geschenken, von der größten Event-Agentur der Welt organisiert. Das ist neben Ostern und Pfingsten eben das wichtigste Event der Kirche. Nur Weihnachten in die Kirche zu gehen ist genauso wenig verlogen wie Menschen, die nur zur Weltmeisterschaft Fußball gucken.

Es entspricht dem traditionellen Bedürfnis, ein paar Tage im Jahr zu überhöhen und besonders zu feiern – warum nicht auch Weihnachten? Der religiöse Inhalt ist den meisten Kirchenbesuchern wohl ziemlich egal.

Tim Schmidt, 40, ist Notfallseelsorger, taz.de-User und hat das Thema online kommentiertNicht nur Weihnachten haben Menschen Kontakt mit der Kirche. Das gesamte Jahr über ist ihr Leben auf unterschiedliche Weisen von der Kirche berührt. Nicht im Gottesdienst, sondern im Alltag: Wenn sie zu einer Beratungsstelle der Caritas gehen oder die Eltern in einem Pflegeheim der Diakonie wohnen. Das ist vielleicht unauffälliger als Weihnachten, aber auch das ist Kirche.

Menschen, denen ich in meiner Arbeit als Notfallseelsorger begegne, ist Schreckliches widerfahren. Ein Mensch ist gestorben oder hat sich in Verzweiflung das Leben genommen. Oder ein Kind liegt tot im Bettchen. Das Leben scheint zu Ende. Viele Menschen wünschen sich in einer solchen Situation ein Ritual. Auch wenn die Menschen nie Mitglied in der Kirche waren und nicht einmal Weihnachten zum Gottesdienst gehen. Eine Kerze anzünden, ein Gebet sprechen, eine Segensgeste für den Verstorbenen und die Lebenden. Ein wenig Licht, wo eben noch völliges Dunkel war. Ein leises „Fürchte dich nicht …“, wo eben nur Angst und Trauer waren. Für diesen einen Moment wird die Plattenbauwohnung zur Kirche.

Jesus von Nazareth hat gesagt: „So kommt doch alle zu mir, die ihr euch abmüht und belastet seid: Ich will euch ausruhen lassen!“ und nicht: „Nur die, die Kirchensteuer zahlen und getauft sind, dürfen kommen …“ Kirche ist für mich ein Haus mit vielen Wohnungen und immer offenen Türen. Jeder und jede ist immer willkommen – egal, was auf einer Lohnsteuerkarte steht.