Expertenkabinett statt gewählter Vertreter: Ungarns Premier bietet Rücktritt an

Der politisch angeschlagene Gyurcsány will ein Misstrauensvotum gegen die eigene Minderheitsregierung beantragen. Bis 2010 soll ein Expertenkabinett das Land durch die Krise steuern.

Er habe die Kräfte und Möglichkeiten seiner Partei überschätzt, so Gyurcsány auf dem Parteitag. Bild: dpa

WIEN taz In einer Flucht nach vorne hat Ungarns Premier Ferenc Gyurcsány am Samstag seinen eigenen Sturz eingeleitet. Auf dem Parteitag der sozialdemokratischen MSZP kündigte er an, in den kommenden Tagen im Parlament ein Misstrauensvotum gegen seine eigene Regierung zu beantragen. Bis zu den Wahlen 2010 soll eine Expertenregierung die Krise verwalten.

"Das Krisenmanagement und weitere Veränderungen brauchen einen stärkeren politischen und gesellschaftlichen Rückhalt als den gegenwärtigen", ließ Gyurcsány seine überraschten Parteikameraden wissen. Seit 2007 die Liberale SZP absprang, steht der Premier einem Minderheitenkabinett vor, das im Parlament keine entscheidenden Reformprojekte mehr durchbringt. Angesichts der Wirtschaftskrise hat sich die Regierung als weitgehend handlungsunfähig erwiesen und hätte ohne Geldspritzen von EU und 25 Milliarden Dollar Notkredit des Weltwährungsfonds bereits Staatsbankrott anmelden müssen.

Die Ungarn leben seit Jahren über ihre Verhältnisse. Auf dem Devisenmarkt schlägt sich das im Verfall des Forint nieder. Er habe, so gestand Ferenc Gyurcsány auf dem Parteitag, die Kräfte und Möglichkeiten seiner Partei überschätzt. Ein starker Verlust an Glaubwürdigkeit, verstärkt auch durch die internen Grabenkämpfe, sei die Folge gewesen.

Nach dem Plan des angeschlagenen Premiers soll sein Interim-Nachfolger nach Ostern vom Parlament bestimmt werden. Am liebsten wäre ihm ein parteifreier Experte. Am Kabinett sollen alle vier Parlamentsparteien beteiligt sein. Das würde auch garantieren, dass die Boykottpolitik der Opposition schmerzhafte Reformen nicht mehr verhindern kann.

Gyurcsánys Lieblingskandidat für den Regierungschef wäre Exzentralbankchef György Surányi. Im Gespräch sind aber auch die Sozialdemokraten Péter Kiss, so etwas wie Kanzleramtschef, und József Graf, Minister für Regionalentwicklung. Nicht abgeben will Gyurcsány seinen Posten als Parteichef. Er hat vor, die MSZP für die Europawahlen im Juni fit zu machen. 508 der 599 Delegierten honorierten die Vorwärtsverteidigung und bestätigten Gyurcsány als Parteichef.

Der radikale Schritt des Noch-Regierungschefs dürfte auch von einem kritischen Kommentar in der sonst MSZP-freundlichen Tageszeitung Népszabadság ausgelöst worden sein. Ein anerkannter Politikwissenschaftler und ein Ökonom äußerten dort die Meinung, dass nur ein schneller Rückzug Gyurcsánys eine Neuaufstellung der Sozialdemokraten ermöglichen würde.

Gyurcsánys Umfragewerte in den letzten Monaten lagen weit unter denen aller Vorgänger seit der politischen Wende vor fast 20 Jahren. 2006 war es ihm noch gelungen, als bis dahin erster Regierungschef der Reformära wiedergewählt zu werden. Schon wenige Monate später trat er mit Bekanntwerden seiner "Lügenrede" die Krise selbst los. In einer Ansprache vor Parteigenossen hatte er bekannt, dass das Volk im Wahlkampf belogen worden sei, was die wirtschaftlichen Perspektiven betraf. Die Folge war eine Serie von Protestkundgebungen. Gegen eine Übergangsregierung ist Viktor Orbán, Chef der rechtspopulistischen Fidesz. Er tritt für Neuwahlen ein, die möglichst mit den Europawahlen am 7. Juni zusammengelegt werden sollen. RALF LEONHARD

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