Brustkrebs-Früherkennung: Kneten gegen Krebs

Marie-Luise Voll ist eine von neun Brusttasterinnen in Deutschland. Die blinde Frau hat ein besonderes Fingerspitzengefühl entwickelt: Damit kann sie Brustkrebs im Frühstadium entdecken.

Viele Patientinnen entscheiden sich für eine Medizinische Tastuntersucherin. Bild: photocase/m.a.r.i.a.

DUISBURG taz Für die Hände von Marie-Luise Voll ist Dorit Schmidt 60 Kilometer mit dem Auto gefahren. Von Dortmund, wo sie wohnt, nach Duisburg-Walsum, wo Marie-Luise Voll arbeitet. Dorit Schmidt liegt auf einer Pritsche in einem schummrigen Raum in der "Praxis für Frauen", ihr Oberkörper ist entblößt. Die Hände von Marie-Luise Voll sind warm und weich, sie kleben schmale Papierstreifen auf beide Seiten der rechten Brust von Dorit Schmidt und einen genau über die Brustwarze, sie teilen den Busen in Zonen ein. Marie-Luise Volls Hände drücken, kneten und streichen über die Brust. Sie wandern tastend von unten nach oben und von einer Seite zur anderen. Sie fragt: "Spüren Sie irgendwo einen Schmerz?" "Nein", sagt Dorit Schmidt.

Die Krankheit: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt es jedes Jahr weltweit über eine Million Fälle von Brustkrebs, davon 580.000 in den Industriestaaten. Jede achte bis zehnte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens daran.

In Deutschland sind das jährlich 57.000 Neuerkrankungen. 17.500 Frauen sterben daran. Fachleute sagen, die Zahlen werden weiter steigen: In den kommenden Jahren wird wahrscheinlich jede siebte Frau Brust-, Gebärmutter- oder Eierstockkrebs bekommen. Grund: veränderte Lebensumstände und die immer früher einsetzende Pubertät.

Die Tastuntersuchung: Die Brustuntersuchung durch eine MTU ist keine Leistung der Krankenkasse, sie gehört zu den sogenannten IGeL-Leistungen (individuelle Gesundheitsleistungen). Sie ist eine Zusatzleistung, die 29 Euro kostet. Eine Untersuchung im Jahr genügt.

Später wird Marie-Luise Voll das Ritual an der linken Brust wiederholen und am Ende zur Patientin sagen: "Alles in Ordnung." Das Ganze dauert eine halbe Stunde, dann wird sich Dorit Schmidt wieder in ihr Auto setzen und eine knappe Stunde zurück nach Hause fahren. Warum nimmt sie diese Tour auf sich? Es gibt doch auch in Dortmund jede Menge Gynäkologen, die bei der Reihenuntersuchung Brüste auf Veränderungen hin abtasten.

Marie-Luise Voll, 57, ist keine Frauenärztin. Sie untersucht die Frauen auch nicht "untenrum". Sie widmet sich ausschließlich den Brüsten. Denn sie hat eine ganz besondere Begabung: Sie kann Brustkrebs ertasten. Außer ihr können das in der Bundesrepublik nur noch neun weitere Frauen, so in Aachen, Kreuzau und Paderborn. Diese Frauen nennen sich MTU, Medizinische Tastuntersucherinnen. Das, was sie tun, ist völlig neu in der medizinischen Praxis.

Laut Berufsbildungsgesetz ist MTU auch kein richtiger Beruf, sondern eine "Fortbildung zu einer ärztlichen Hilfstätigkeit". Das klingt nach schlichter Zuarbeit. Aber es ist weitaus mehr. Marie-Luise Voll hat dafür neun Monate lang Theorie gelernt, an Gummibrüsten und Matten geübt und ein zehnwöchiges Praktikum hinter sich. Jetzt ist die Brusttasterin aus der Duisburger Praxis nicht mehr wegzudenken, seit einem Jahr arbeitet sie hier. Frank Hoffmann, Gynäkologe in einem Frauenärztehaus an der Ecke einer stark befahrenen Straße, verlässt sich auf die Hände seiner neuen Fachkraft. Er sagt: "Keine tastet besser als sie." Das hat sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer, die Frauen pilgern sogar aus Bayern und Holland zu Marie-Luise Voll.

Da ist noch etwas: Marie-Luise Voll ist blind, der grüne Star hat ihr über Jahre hinweg das Augenlicht geraubt. Das eine hat mit dem anderen direkt zu tun: Erst durch ihre Sehbehinderung ist die große, schlanke Frau mit dem leicht ergrauten Haar Brusttasterin geworden. "Und das ist gut so", sagt sie: "Ich liebe meine Arbeit sehr."

Zehn Quadratmeter, Liege, Hocker, Waschbecken, Schreibtisch, alles hat seinen bestimmten Platz im Arbeitsraum der blinden Tasterin, hier kennt sie jeden Zentimeter. Sie macht zwei Schritte zum Schreibtisch. Nach dem Tasten folgt die Schreibarbeit. Im Computer protokolliert sie haarklein, was sie ertastet hat: Gewebedichte, Hohlwarzen, Temperaturunterschiede in den Brüsten, mediale Veränderungen, aber auch Veränderungen direkt unter der Haut oder nah am Brustkorb. Bei Dorit Schmidt muss Marie-Luise Voll nicht viel tippen, die Brüste sind tipptopp. Marie-Luise Volls Finger flitzen über die Tastatur, sie schreibt schnell wie eine Sekretärin. Nur wenn sie noch einmal lesen will, was sie notiert hat, kommt die Blindentechnik ins Spiel. Vor der normalen Tastatur liegt eine mit Brailleschrift. Die MTU klickt die Patientenakte von Dorit Schmidt an, der Text wird in die Blindenschrift übertragen.

Dorit Schmidt ist 45 Jahre alt, hat zwei Kinder, raucht nicht, und es gibt keinen Krebs in der Familie. Sie ist also nicht sonderlich gefährdet. Aber sie will auf Nummer sicher gehen. Man liest und hört ja so viel in letzter Zeit von Tumoren, die zu spät erkannt werden, sagt sie. Und die Mammografie, das Röntgen der Brust, ist erst für Frauen ab 50 vorgesehen.

Tasten versus Technik? Nein, sagt Frank Hoffmann, darum geht es nicht: "Das Tasten ist eine Ergänzung." Der Frauenarzt hat sich die Tastuntersuchung ausgedacht. Manche Gewebeveränderungen erkennt man nur beim Ultraschall, andere macht die Mammografie sichtbar, und wiederum andere stellt man beim Tasten fest. In den westlichen Ländern ist Brustkrebs die häufigste Krebserkrankung bei Frauen, an ihm sterben mehr Frauen als an anderen Krebsarten.

Frank Hoffmann, 49, kennt alle diese Statistiken, und er weiß, was es heißt, einer Frau sagen zu müssen, dass sie Krebs hat. Erst neulich hatte er wieder so einen Fall: eine junge Frau, 27, am Anfang ihres Lebens, Lymphdrüsenkrebs, Marie-Luise Voll hat ihn ertastet, kleine Knötchen in der Achselhöhle. "Das ist bitter", sagt der Arzt. Aber: Brustkrebs ist heilbar - wenn er früh genug erkannt wird. Eine bestmögliche Vorsorge ist da unerlässlich. Aber die braucht Zeit. Frank Hoffmann hat sie oft nicht. Das ist die Krux: Seine Praxis ist nicht nur eine medizinische Einrichtung, sondern auch ein Wirtschaftsunternehmen. 17,85 Euro darf der Mediziner den Krankenkassen für eine komplette Krebsvorsorge in Rechnung stellen: Muttermunduntersuchung, Brustabtasten, Abstrich. "Wenn das mehr als zehn Minuten dauert, ist es unrentabel", so Frank Hoffmann.

Das geht so nicht, sagte er sich irgendwann. Und überlegte, wie und wen er für eine Extrabrustuntersuchung anlernen könnte. Eine seiner Praxisschwestern? Eine aus dem Krankenhaus? Da hatte er eines Morgens eine Eingebung: eine blinde Frau. "Blinde", sagt er, "haben doch das besondere Fingerspitzengefühl."

Anderthalb Stunden entfernt von Duisburg liegt Düren. Die Strecke dorthin kennt Frank Hoffmann im Schlaf, er ist sie x-mal gefahren. In der mittelgroßen Stadt am Rande der Nordeifel, in einem siebenstöckigen weißen Neubau, ist das Berufsförderungswerk (bfw) untergebracht. Die Flure sind breit, es steht nichts im Weg. Denn diejenigen, die sich hier zum Koch, zur Bürofachkraft oder zur Verwaltungsfachangestellten ausbilden lassen, können nichts sehen. Viele von ihnen hatten früher andere Berufe, aber seit sie blind sind, können sie in ihren Jobs nicht mehr arbeiten. Marie-Luise Voll war einmal Krankenschwester.

Bis zu dem Tag, als Frank Hoffmann vor zwei Jahren in Düren durch die Tür zu Katrin Zirkes Büro trat, hatte die Reha-Ausbilderin beim bfw noch nie etwas vom Tätigkeitsbild einer Tastuntersucherin gehört. Aber sie konnte sich das sofort vorstellen, Katrin Zirke hat schon vieles auf den Weg gebracht für "ihre" Blinden, die im öffentlichen Bild kaum auftauchen. Zwischen 155.000 und einer halben Million Sehbehinderte gibt es in Deutschland. Diese Zahl hat der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband geschätzt, offizielle Statistiken gibt es nicht.

Frank Hoffmann musste nicht viel reden, das Pilotprojekt MTU war schnell beschlossen, für die wissenschaftliche Begleitung holten sich die beiden die Universität Essen ins Boot. Am Anfang glauben Katrin Zirke und Frank Hoffmann, dass am ehesten Frauen aus medizinischen Berufen Tasterinnen werden können. "Aber schnell merkten wir, dass das Quatsch ist", sagt Katrin Zirke. Eine Tasterin war zum Beispiel Klavierstimmerin, eine andere Telefonistin, zwei hatten vorher in Büros gearbeitet. "Nur in der Theorie hatte ich einen Vorsprung", sagt Marie-Luise Voll.

In der Branche findet das Projekt nicht ungeteilte Zustimmung. Noch sagt es kein Mediziner laut, aber manche Frauenärzte wittern in den Tasterinnen Konkurrenz. Laufen Frauen wie Marie-Luise Voll den Fachleuten jetzt den Rang ab? Frank Hoffmann winkt ab: "Alles Unsinn." Und: Die letzte Verantwortung liegt beim Arzt. Frank Hoffmann entscheidet, was zu tun ist, wenn Marie-Luise Voll etwas Unerwünschtes findet. Und Frank Hoffmann ist es, der den Frauen sagt: "Machen Sie beides: Tasten und Mammografie."

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