Moderator Jürgen Kuttner über Kapitalismus: "Redet mal übers System"

Für den Berliner Radiomoderator Jürgen Kuttner ist es symptomatisch, dass allerorts von Kapitalismuskritik die Rede ist, nie von Ausbeutung.

Jürgen Kuttner geht die populäre Kapitalismuskritik nicht genug ins Detail. Bild: dpa

Herr Kuttner, Sie wurden berühmt mit Ihrer Berliner Radiosendung "Sprechfunk". 15 Jahre lang haben Sie mit Anrufern des Abends eine ganz eigene plauderige Gesprächskultur entwickelt. Warum hat es Sie nie interessiert, "ordentliche" Interviews zu führen?

Jürgen Kuttner: Beim Interview hat man, denke ich, schon etwas wie eine Übersicht oder Draufsicht, was jemand sagen soll und wie er es ungefähr sagen soll. Das ist relativ zielgerichtet - Ihre Meinung zur Abwrackprämie oder Ihre Lebensgeschichte.

Und diese Hierarchie wollten Sie vermeiden?

Ja. Ich habe immer versucht, mich auf eine alltägliche Ebene zu bringen. Wenn ich in der U-Bahn sitze, dann seh ich mir die Leute an und will wirklich gerne wissen, wie deren Küche aussieht.

JÜRGEN KUTTNER, 52, gründete 1990 die Ost-taz mit. 1993 begann der promovierte Kulturwissenschaftler seine legendäre Radioshow "Sprechfunk" bei dem Berliner Sender Fritz. Über 15 Jahre plauderte er mit jungen Leuten über Alltagsthemen. Von "Tod bis Pappnase" war, wie er sagt, alles möglich. Auch seine ebenfalls sehr erfolgreichen Videoschnipselvorträge an der Berliner Volksbühne widmen sich der Alltagskultur.

Also geht es Ihnen eher um eine gesprochene Reportage?

Wahrscheinlich. Und auch darum: aus meiner Neugier heraus zu schauen. Als Journalist ist man ja eher repräsentationsneugierig, man ist für andere neugierig. Davon bin ich immer frei gewesen, was ich als Luxus empfinde.

Trotzdem haben auch Sie als Journalist gearbeitet - und 1990 die Osttaz mitgegründet. Warum - was war die Hoffnung?

Ach, Hoffnung stellte sich erst ein, als sie enttäuscht wurde. (lacht) Dass das mit dem Osten zu Ende geht, war ja klar. Und auf einmal wehte einen die Möglichkeit an, etwas machen zu können. Als passionierter Zeitungsleser war es sehr verführerisch, selbst Zeitung zu machen. Wir sind damals in die Kochstraße gewackelt und haben unsere Ideen von einer Zeitung vorgestellt - die erst mal alle abgeschmettert wurden. Aber als dann keiner mehr übrig war, kamen sie auf uns zurück.

Habt ihr damals nach dem dritten Weg zwischen Realsozialismus und Kapitalismus gesucht?

Nein, eigentlich nicht. Der dritte Weg war im Grunde ja die alte Bundesrepublik.

Aha, warum?

Gerade in der Rückschau merkt man: Die BRD war ein sehr gemütliches Land. Es ist eine große kulturelle Leistung, dass Gerechtigkeit ein gewisser Wert war und auch noch ist. Ich finde es toll, dass es ein Wert war und ist, auch wenn es sich gar nicht politisch formuliert, dass die Differenzen zwischen "oben" und "unten" nicht allzu groß werden sollten.

Was auch der Systemkonfrontation mit der DDR geschuldet war.

Na klar. Die BRD war das Verdienst der Systemkonfrontation, also der DDR. Westberlin war das Schaufenster des Westens, wo die Arbeitslosigkeit gedeckelt wurde, indem man den öffentlichen Dienst ausgebaut hat - genau wie im Osten der SED-Sekretär für Arbeiterjugend, der eigentlich nichts zu tun hat. Quasi arbeitslos im Job ist. Das ging also auch.

Die Linke wird gerade oft kritisiert, weil sie so wenig zur Finanz- und Wirtschaftskrise sagen kann und stattdessen vielfach nostalgisch wird: Zurück zur Bundesrepublik, wo es noch eine Rente und eine ordentliche Krankenversicherung gab.

Schwierig. (lacht) Ich will jetzt ja nicht der Arzt am Krankenbette des Kapitalismus sein. Aber die Idee, dass sich nicht alles rechnen muss und trotzdem existieren darf, halte ich für eine Errungenschaft. Denn: Meine Gesundheit rechnet sich einfach nicht. Trotzdem ist sie wichtig. Und solche Fragen sind womöglich wichtigere Fragen als die radikalen, wie wir jetzt die Welt umstürzen können. Die Überlegungen zum Umsturz haben ja wahrscheinlich die letzten 30, 40, 50 Jahre gar nicht mehr stattgefunden. Der Osten war mit sich beschäftigt. Im Westen gab es eher so was wie den Salonbolschewismus. Das zeigt sich ja auch jetzt in Zeiten der Wirtschaftskrise.

Der Salonbolschewismus zeigt sich jetzt?

Genau. Das ist schon irre, wie gerade die FAZ den Kapitalismus nicht mehr gut findet. Mehr noch als die taz, scheint mir. Andererseits finde ich es schon erstaunlich, dass es so gut wie nirgends eine Analyse gibt, die erklärt und beschreibt, was da eigentlich in den letzten zwanzig Jahren passiert ist. Ohne Prognose. Einfach nur eine kluge Bestandsaufnahme.

Aber gibt es jetzt nicht wieder bessere Plattformen für eine Kritik am Kapitalismus?

Ach nö. Es gibt weiterhin einzelne interessante Orte. Aber Verbindung zwischen diesen existiert nicht. Meine Plattform etwa ist eben die Volksbühne, wo ich mit Videoschnipseln die Welt erkläre.

Ein Grund für die aktuelle Sprachlosigkeit ist doch, dass viel zu wenig Wissen über ökonomische Zusammenhänge angesammelt wurde.

Richtig.

Aber Sie halten daran fest, mit Videoschnipseln die Welt zu erklären. Ist diese Kulturalisierung von Lebensverhältnissen nicht überholt?

Immer den Modethemen hinterherzuhecheln finde ich nicht interessant. Ich habe, und darauf bin ich wirklich stolz, vor eineinhalb Jahren einen Videoschnipsel-Abend zur Bankenscheiße gemacht. Und einfach mal hingehört, was Herr Ackermann bei Maybrit Illner wirklich sagt. Wenn man das Satz für Satz durchgeht, dann merkte man schon damals, was das für ein Unfug ist. Jetzt etwas zur Bankenkrise zu machen, habe ich keine Lust. Für mich muss es jetzt eher so etwas geben wie eine grundsätzliche Analyse unserer Lebensverhältnisse. So etwas wie die Anstrengung des Begriffs.

Etwa die Frage, ob wir in einem Herrschaftsverhältnis leben? Und dass dieses mit ein bisschen Keynes und ein bisschen Bankenverstaatlichung nicht aufzuheben ist?

Es müsste einfach ein ernsthaftes Nachdenken über die Gründe der Krise geben. Das fehlt mir bislang. Für die Linke im Westen war der Mauerfall ja ein traumatisches Erlebnis. Eben noch Maoist und dann staatstragender Redakteur - ob bei der Welt oder bei der taz. Die eigene Vergangenheit, also das eigene linke Denken, musste dringend ausgelöscht werden. Das hat Folgen, bis heute. Wenn überhaupt, reflektiert man ironisch über die Diskussionen von damals oder hält sie im Nachhinein für faschistisch. Wie Götz Aly. Und macht aus Woodstock einfach mal Auschwitz.

Im Moment reden doch alle wieder vom Kapitalismus als Problem, auch von Marx.

Aber nicht von Ausbeutung. Schon mit der Frage, ob jemand ausgebeutet wird, diskreditiert man sich nach wie vor als jemand, der nichts gelernt hat aus der Geschichte. Ich finde, wenn Banker und Finanzminister "systemisch" sagen, sollte die Linke das als Anlass nehmen, mal übers System zu reden.

Kapitalismuskritik ist wieder en vogue, weil wir sie nicht mit der Frage nach Ausbeutung verbinden?

Genau.

Welche Ideen werden noch rausgekantet, weil das Schlagwort "Kapitalismuskritik" wieder hoffähig ist?

Vielleicht die Frage nach Profit oder auch nach Ideologie. Und die nach Kultur- oder Medienkritik. Das hört sich jetzt alles so pessimistisch an, so wie Opa erzählt vom Krieg. Aber es ist schon Wahnsinn, wie kampflos der letzte Unsinn im Fernsehen, gerade auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, hingenommen wird. Und niemand sich fragt, was da für eine Ideologie am Werk ist, wenn jetzt alle Oliver Pochers Weggang aus der ARD beweinen. Kapitalismuskritik mit Ideologiekritik zu verbinden, das wäre in Ordnung. Dann machte Ersteres wieder Sinn.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.