Debatte Neoliberalismus: Totgesagte leben länger

Die Krise macht den Staat nicht stärker, sondern schwächer. Denn um die Finanzökonomie zu stabilisieren, muss er sein Letztes geben.

Es ist nicht abzusehen, wie lang die Krise noch dauern, welche tektonischen Verschiebungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sie zeitigen wird. Doch eine scheinbare Gewissheit ist bereits Allgemeingut geworden: Mit der Krise ist das Ende des von seinen Kritikern neoliberal genannten Zeitalters eingeläutet, der Staat ist wieder auf dem Vormarsch.

So sieht der Soziologe Ulrich Beck die Geltung der freien Marktwirtschaft schwinden und den klassischen Neoliberalen zum Staatsozialisten mutieren. Lothar Bisky weiß "Die Linke" ebenso auf dem Vormarsch, wie Andrea Nahles nun ein Jahrzehnt der sozialen Demokratie und des handlungsfähigen Staates anbrechen sieht. Da es diesen optimistischen Selbstdiagnosen einstweilen noch an empirischer Evidenz mangelt, wird die eigene Stärke recht umstandslos von der des Staates hergeleitet.

Dabei annoncieren die mittlerweile in Billionen-Dimensionen sich auswachsenden Rettungspakete keineswegs eine Rückkehr des Staates. Dieser gibt derzeit vielmehr sein Letztes, um die niedergeschlagene Finanzökonomie wieder zu stabilisieren, und riskiert dabei in nicht unerheblichem Maße seine eigene Stabilität und Gestaltungsmacht. Seine Interventionen zielen darauf, das Finanzsystem transaktionsfähig zu halten, indem er Schulden übernimmt und deren Begleichung in die Zukunft und auf die künftigen Steuerzahler verlagert.

Nirgends wird das Auseinanderfallen von politischer Machtzuschreibung und realer Ohnmacht deutlicher als an der Debatte um die Verstaatlichung der Banken. Schon die ersten Erklärungen des Bundesfinanzministers Peer Steinbrück zur Stützung des Immobilienfinanziers Hypo Real Estate atmeten jenen Geist der Alternativlosigkeit, der seit Thatchers Tagen Stilelement des Neoliberalismus ist: "Too big to fail". Mittlerweile ist mit der ersten Stützung der Einstieg des Staates tatsächlich alternativlos geworden, müsste dieser doch andernfalls einige bereits investierte Milliarden abschreiben - vom Gesichtsverlust einmal ganz abgesehen. Doch die Übernahme des gesamten Schrotthaufens, dessen realer Wert auch heute noch nicht taxiert werden kann, hat - trotz allen freidemokratischen Lamentierens - mit dem, was einst an gesellschaftsverändernder Praxis unter Verstaatlichung verstanden wurde und was noch die Verfasser des Grundgesetzes zur Formulierung des entsprechenden Artikels inspirierte, rein gar nichts zu tun.

Man beschränkt sich darauf, die Managerbezüge temporär zu kappen - dabei sind diese lediglich ein systemisches Defizit der Unternehmenssteuerung. Der Ökonom J. K. Galbraith hat es bereits vor Jahren als "Diktatur der Manager" klassifiziert: "Ein Leitungssystem, das unbeschränkte Macht zur Selbstbereicherung gewährt", gehöre zu den grundlegenden Merkmalen der Großunternehmen des 21. Jahrhunderts.

Wer meint, das Konzept des Shareholder-Value habe nun endgültig abgewirtschaftet, verkennt, dass es sich im Laufe der letzten Jahrzehnte zum dominierenden Unternehmensmodell entwickelt hat. Es ist ein Resultat der Veränderung von Produktions-, Macht- und Beteiligungsstrukturen, das sich nicht so ohne weiteres rückgängig machen lässt. Es hat im Prozess der Globalisierung entscheidende systemische Vorteile gebracht, von denen nicht nur die Global Player der Wirtschaft, sondern auch Staaten profitieren. Selbst der aufgeblähte Finanzsektor wird sich nicht einfach reduzieren lassen: Immerhin haben die USA zuletzt über 40 Prozent der Unternehmensgewinne in diesem Bereich erwirtschaftet wurden; in Großbritannien sah es ähnlich aus. Das prägt auch die Haltung Präsident Obamas.

Die Art und Weise, wie die diversen Rettungspakete geschnürt und Schirme aufgespannt werden, lassen Politik zum bloßen Nachvollzug von ökonomischen Notwendigkeiten degenerieren. An die Stelle der Repräsentation der Bevölkerungsinteressen tritt die Präsentation exekutivisch formierter und ökonomisch vorentschiedener Politik. Der Soffin (Sonderfond Finanzmarktstabilisierung) ist das Musterexemplar einer der parlamentarischen Kontrolle entzogenen "Sachpolitik". Was der englische Politologe Colin Crouch bereits für den Normalbetrieb der "Postdemokratie" an Deformationen diagnostiziert hat, potenziert sich in der Krise. Diese entfaltet eine rückkoppelnde Eigendynamik, die auch die politischen Organe in ihren Sog zieht.

So wie sich die Immobilienkrise erst zur Finanz- und dann zur Wirtschaftskrise auswuchs, so droht das Engagement des Staates dessen eigene Krise zu befördern, wenn der Fluss seiner Gelder nicht das notwendige Vertrauen zu induzieren vermag. Entsprechende Zweifel haben die handelnden Politiker allein schon durch die Vertrauensseligkeit genährt, mit der sie bereit waren und sind, ohne eine Vorstellung von notwendigen Strukturveränderung finanzielle Hilfestellungen zu geben. Ihre eklektizistischen Interventionen und ihr anschwellender Nationalprotektionismus sind ein Eingeständnis, dass ihre Ressourcen begrenzt sind. Sie lassen keine ordnungspolitischen Leitlinien erkennen und sind in der Logik der ökonomischen Sachzwänge verfangen. Sie sind weit entfernt von dem, was sich etwa eine Andrea Nahles und mit ihr viele Linke unter einem handlungsfähigen Staat vorstellen. Die normative Kraft der wirtschaftlichen Notwendigkeiten wird die Erfüllung sozialer Forderungen bis auf weiteres in den Hintergrund drängen. Zugleich wird der soziale Unmut ob der Ungerechtigkeiten, die mit der Finanzkrise offenbar werden, sich in dem Maße steigern, wie sich die Lage immer größerer Teile der Bevölkerung verschlech- tern wird.

Der Unmut, den die Krise befördert, richtet sich, wie die Beispiele Island, Irland und Ungarn zeigen, mangels ökonomischer Adressaten gegen den Staat. Unter verengten Handlungsspielräumen hierauf eine Antwort zu finden, darin wird die eigentliche Stärke des Staates liegen. Darum täuscht sich, wer sie lediglich aus der Staatsbedürftigkeit der Privatökonomie und den Geldsummen ableitet, die der Staat für diese zu bewegen in der Lage ist.

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