Amerikanisierung im Gesundheitsystem?: "Die Patienten sollen zahlen"

Wulf Dietrich vom Verein demokratischer Ärzte kritisiert Forderungen nach Ranglisten und Zusatzkrankenversicherungen. Das gefährde den sozialen Frieden.

"Wir haben eine Zweiklassenmedizin", sagt Dietrich. Bild: ap

62, ist Vorsitzender des Vereins demokratischer Ärzte und Ärztinnen (VDÄÄ) und Professor für Anästhesiologie in München. Bis 2007 war er am Deutschen Herzzentrum.

Das Treffen: Ärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe beklagte zur Eröffnung des 112. Deutschen Ärztetages am Dienstag in Mainz, Rationierung und Unterfinanzierung seien längst Realität. Als Konsequenz daraus pochte Hoppe ungeachtet der Kritik von Politik und Krankenkassen auf die Priorisierung von Gesundheitsleistungen in Form einer Rangliste.

Der Protest: Begleitet wird der Ärztekongress von bundesweiten Praxisschließungen, zu denen das Protestbündnis "Freie Ärzteschaft" aufgerufen hatte. Wie Präsident Martin Grauduszus sagte, blieben bei 30.000 Haus- und Fachärzten die Türen geschlossen.

taz: Herr Dietrich, die Bundesärztekammer fordert Behandlungsranglisten, die Ärztegewerkschaft Marburger Bund private Zusatzkrankenversicherungen mit staatlicher Förderung. Was für ein Gesundheitssystem soll das werden, wenn es fertig ist?

Wulf Dietrich: Es läuft auf eine Amerikanisierung hinaus. Auf ein System, in dem nicht mehr alle den gleichen Zugang zu medizinischen Leistungen haben. Und es eröffnet neue Möglichkeiten, die Patienten zur Kasse zu bitten. Es soll so viel Geld im Topf der gesetzlichen Krankenversicherung, der GKV, bleiben wie jetzt, aber die Leistungen sollen gekürzt werden. Was fehlt, müssen die Patienten dann aus eigener Tasche bezahlen- oder eben über den Umweg einer privaten Versicherung.

Wie groß schätzen Sie die Zustimmung der Ärzteschaft dafür ein?

Im Moment sehr groß. Wir halten die die Aussagen von Ärztepräsident Hoppe und die Vorschläge des Marburger Bundes für gefährlich.

Inwiefern gefährlich?

Ein solcher Umbau der GKV gefährdet den sozialen Frieden. Bisher beruht unser System auf dem Grundsatz: Jeder bekommt, was er braucht, und zahlt, was er kann. Damit ist es vorbei, wenn der Geldbeutel entscheidet, wer was bekommt. Schon heute enthalten einige Ärzte ihren Patienten illegal Behandlungen vor, indem sie behaupten, die Kasse zahle dafür nicht mehr. Mit Ranglisten würde dies legitimiert.

Ist das deutsche Gesundheitssystem so unterfinanziert, wie die Ärztekammer und Marburger Bund sagen?

Man sollte erst mal vor der eigenen Haustür kehren. Es wird viel Geld unnötig ausgegeben - für zu viele Rücken- und Knie-Operationen oder Herzkatheter, ohne erkennbaren medizinischen Nutzen. Und nach wie vor ein Skandal ist, dass die GKV mehr Geld für Medikamente ausgibt als für direkte ärztliche Behandlung. Es gibt noch viel Einsparpotenzial.

Ärztekammerpräsident Hoppe prangert aber an, Kassenpatienten mit Krebs oder Multipler Sklerose würden nicht so gut versorgt, wie es sein müsste.

Diese Äußerungen sind schwer nachvollziehbar. Ich würde sagen, im Großen und Ganzen ist die Behandlung noch so, wie sie sein sollte. Es gibt einige neue Medikamente, die Kassenpatienten nicht bekommen. In einigen Fällen ist deren Nutzen aber auch noch nicht belegt.

Haben Kassenpatienten Nachteile, weil sie die Spezialisten nicht zu sehen bekommen?

Wir haben eine Zweiklassenmedizin: Privatpatienten werden anders behandelt als Kassenpatienten. Sie bekommen die Spezialisten leichter und häufiger zu sehen. Vielleicht zum Teil zu häufig.

Was muss passieren, um die Zukunft der solidarischen Krankenversicherung wirklich zu sichern?

Wir müssen aufhören, das Gesundheitssystem als Markt zu sehen, auf dem man verdienen kann. Wir brauchen eine einheitliche Versicherung mit einem einheitlichen Leistungskatalog für alle Bürger. Die Beitragsbemessungsgrenze muss fallen, damit auch hohe Einkommen voll belastet werden. Wenn man sich dafür entscheiden würde, käme auch mehr Geld ins System.

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