Kolumne China: Deep Throat

Chinesen haben ein sehr widersprüchliches Verständnis von guten Umgangsformen. Das lasse ich mir nicht bieten.

Ich dachte, ich hätte es begriffen. Ins Taschentuch schnäuzen - unter Chinesen verpönt. Das Tragen von OP-Masken hingegen - dank Schweinegrippe dermaßen schick, dass modebewusste Damen Modelle aus Samt mit Strasssteinen tragen. Wie schön, dachte ich zu Beginn meiner Zeit in China. Die Herrschaften hier achten auf Umgangsformen. Ich hatte nichts begriffen.

Angekommen in China, lief ich durch die mit Wüstensand, Auto- und Industrieabgasen reichlich gesegneten Straßen Beijings. Ich nieste ständig. "Wenn die Chinesen so eine strikte Antitaschentuchkampagne fahren", dachte ich, "was machen sie dann mit ihren HNO-Inhalten?" Zur Antwort erhielt ich ein Grollen. Es schwoll hinter mir an und löste sich auf in einem dumpfen Laut. Ich drehte mich um und sah in die Rehaugen einer chinesischen Alexandra Maria Lara. Die hübsche Dame hatte gedankenverloren, aber routiniert auf den Bürgersteig gerotzt. Würde Lara das in Deutschland machen, könnte sie einpacken, Rehaugen hin oder her.

Ich lernte schnell: Nicht nur chinesische Doubles deutscher Schauspielerinnen rotzen Beijing voll, sondern sogar schwitzige Bauarbeiter und übellaunige Rikschafahrer. Ihr ganz besonderes Schlaflied bettete mich nachts zur Ruh, und morgens küsste mich seine grausame Melodie wach. Weltgewandte Hauptstädter versicherten mir, so unfein verhielten sich nur ehemalige Bauern aus der Provinz. So, so. Da habe ich von meiner Freundin Alexandra Maria aber was ganz anderes gehört. Taschentücher eklig finden, aber Rotz produzieren wie Rod Stewart. Das habe ich gern. Empört entschied ich mich, Rettung im ehemals britischen Hongkong zu suchen.

Am Beijinger Flughafen betrachtete ich ein junges chinesisches Paar in einem Café. Sie saßen einander gegenüber, plauderten, tranken Cappuccino. Dann war da wieder dieses Geräusch, dieses Ziehen und Drücken. Ich blickte hinüber und sah, wie der Mann konzentriert, fast zärtlich sein Rachengold in eine weiße Stoffserviette spuckte. Dann faltete er sie und legte sie zwischen sich und seine Freundin auf den Tisch.

In Hongkong wähnte ich mich sicher. In einem Kino versuchte ich, bei einem Katastrophenfilm zu entspannen. Den Spaß an der Apokalypse vermieste mir mein Sitznachbar. Nur von befriedigten Grunzern unterbrochen, rülpste er ab dem Vorprogramm ohne Unterbrechung leise vor sich hin. Ich starrte ihn von der Seite an. Demonstrativ genervt sollte das wirken, nur war ihm das nicht klar. In einem gelassenen Tonfall, in dem man in Deutschland fragt "Ist dein Pullover neu?", sagte ich schließlich zu ihm auf Deutsch: "Du asoziales Schwein." Er regte sich nicht. Zufrieden sah ich fortan der Welt beim Untergehen zu. Was zwischen Kennern der deutschen Zunge zu unübersichtlichen Folgen hätte führen können, war meine Rettung: Ich hatte meine Wut herausgelassen, und doch blieb alles friedlich.

Wenn meine Planung klappt, bin ich bald für eine Woche in einem Dorf in einer armen, inländischen Provinz. Viele Bauern, keine Fremdsprachenkenntnisse. Ich freue mich schon.

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Schriftsteller, Buchautor & Journalist. Von 2005 bis 2014 war er Politik-Redakteur und Kolumnist der taz. Sein autobiographisches Sachbuch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. Auch der Nachfolger "Das Opfer ist der neue Held" behandelt die Folgen unverstandener Traumata. Lohres Romandebüt "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" wird von der Kritik gefeiert.

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