SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier: „Ich mache nicht auf naive Euphorie“

Die Europawahl vermasselt, in Umfragen nur bei 25 Prozent: Wie will Frank-Walter Steinmeier die Wahl noch gewinnen? Ein Interview mit dem Kanzlerkandidaten der SPD.

„Ich habe von Empörung gelebt“ : Frank-Walter Steinmeier. Bild: dpa

taz: Herr Steinmeier, muss man als Spitzenkandidat auf einem Parteitag eigentlich brüllen?

Frank-Walter Steinmeier: In so manchem lärmenden Bierzelt ist es gar nicht so einfach, die richtige Lautstärke zu finden. Inzwischen vertraue ich da mehr auf die Kraft der Mikrofone. Und meine Rede auf dem SPD-Parteitag Mitte Juni war doch genau richtig.

Sie haben sich also gebessert?

Jeden Tag! Und meiner Stimme hat es auch gut getan. Im Ernst: Auf dem Parteitag hat man gemerkt, dass Inhalt und Präsentation gut zueinander passten.

Das Laute liegt Ihnen offenbar nicht. Auch nicht das Radikale? Über Ihren Heimatort haben Sie mal gesagt: „In Brakelsiek tobte nicht gerade der Klassenkampf“.

Tobte er auch nicht. Der Streit zwischen der Volksfront von Judäa und Judäaischen Volksfront hielt sich bei uns in Grenzen. Aber was heißt schon radikal?

Das würden wir gern von Ihnen wissen. Wie wär's mit Empörung, Rebellion, Revolution?

Wir waren kurz davor. Und wie schon Lenin sagte: Die Bahnsteigkarte hatten wir schon.

Sie haben doch nie an die Revolution geglaubt.

Ehrlich gesagt: Nein. Aber sehr wohl daran, dass die Dinge nicht so bleiben dürfen, wie sie sind. Ich kann mich an keine Phase meines Lebens erinnern, in der ich mich nicht eingemischt habe. Und natürlich sind wir auch auf die Straße gegangen, zum Beispiel gegen das Hochschulrahmengesetz, gegen Nachrüstung oder Wackersdorf. Das war demokratischer Protest, nichts für Salonrevoluzzer.

Haben Sie sich mal bei Demos geprügelt?

Nö.

Sie sind auch nicht aufgetreten wie Trittin und Fischer, vorneweg in schwerer Lederjacke?

Lederjacke sowieso nicht. Wenn, dann grüner Parka – ohne Kapuze!

Gab es für Sie ein politisches Schlüsselerlebnis?

Ja, noch zu meiner Studienzeit. Da wurde ein kleiner Betrieb in meiner Nachbarschaft aufgekauft, nur um ihn dann dicht zu machen. Das hat mich riesig empört. Und was die Studienzeit anging – da haben wir ja eh fast nur von Empörung gelebt.

Wegen des Hochschulrahmengesetzes? Wie konstruktiv.

Wie wichtig! Da ging's um das politische Mandat für die Studentenschaft, ob wir uns äußern dürfen zu Sachen wie Nicaragua, Portugal und Nelkenrevolution. Wir haben ständig in irgendwelchen ungeheizten Programmkinos Dokumentationen über die politische Unterdrückung in Südamerika angesehen.

Und dann haben Sie Geld für Waffen für El Salvador gespendet?

Nee, aber für Solidarität mit Nicaragua. Was genau mit dem Geld gemacht wurde, blieb allerdings etwas unklar. Ich hoffe, nur Gutes.

War Rudi Dutschke ein politisches Vorbild für Sie?

Dutschke? Nicht wirklich.

Warum nicht?

1968 war ich zwölf. Als ich politisch wach wurde, war Rudi Dutschke schon eine historische Figur. Anders Willy Brandt. Dessen Ost- und Friedenspolitik war hoch umstritten. Das hat die Menschen bewegt, auch mich. Und wegen meiner Mutter, die aus Schlesien geflohen war, hatte es auch einen biografischen Hintergrund.

Also sind Sie, wie so viele damals, wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten?

Ja, für mich war das Misstrauensvotum gegen Brandt 1972 ein Schlüsselerlebnis. Ich habe das in der überfüllten Aula unserer Schule gesehen, auf einem kleinen Fernseher. Man konnte kaum etwas erkennen, der Ton war bis zum Anschlag aufgedreht. Als endlich das Ergebnis kam, atmete der ganze Saal auf – obwohl unsere Lehrer wirklich nicht alle Sozialdemokraten waren. An diesem Tag wurde mir klar: Es reicht nicht politisch rumzuschwadronieren, du musst auch was machen. Ich ging dann zu den Jusos und 1975 in die Partei.

Die SPD hat in den letzten 20 Jahren fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Knapp 50 Prozent der Genossen ist älter als 60 Jahre. Miese Aussichten für die Mitgliederpartei SPD?

Gucken Sie mal hin: In Potsdam bei den Uni-Wahlen hat die Juso-Hochschulgruppe gerade eine Liste mit über 100 Kandidaten aufgestellt. Die sozialdemokratische Idee ist offensichtlich immer wieder attraktiv. Für alle, die neugierig ins Leben gucken und was verändern wollen. Aber ich gebe zu: Wir können und müssen in der SPD mehr dafür tun, dass engagierte Leute bei uns mitmachen.

Die sozialdemokratischen Parteien sind, wie die Europawahl gezeigt hat, von Rom bis Berlin, von Paris bis London, in einer dramatischen Krise.

ennoch kann man die Europawahl nicht auf die Bundestagswahl hochrechnen. Die kleineren Parteien waren bei den Europawahlen untypisch stark. Das wird am 27. September anders sein.

Ist das Konzept der SPD, eine linke Volkspartei zu sein, die vom Arbeitslosen bis vom Manager gewählt wird, noch zeitgemäß?

Ganz entschieden ja! Auch wenn es in ganz Europa eine Tendenz gibt, dass die klassischen Volksparteien an Zustimmung verlieren und Klientelparteien stärker werden.

Welche Länder meinen Sie?

Etwa die Niederlande. Dort haben die sozialdemokratische PvdA und die Christdemokraten bei der Europawahl zusammen nur noch ein Viertel der Stimmen bekommen. Wenn kleine Klientelparteien Überhand nehmen, wenn die Bürger bloß den wählen, der mehr Netto verspricht, dann ist das ungesund für die Demokratie. Denn dabei bleibt die Verantwortung für das Ganze auf der Strecke.

Nur acht Prozent der SPD-Mitglieder sind Arbeiter. Kann man da noch von Volkspartei sprechen?

Auch in der Gesellschaft nimmt der Anteil der Arbeiter ab. Wichtig ist: Die SPD ist die Partei der Arbeit. Das haben wir mit dem von uns durchgesetzten Konjunkturpakt, dem kommunalen Investitionsprogramm oder etwa im Fall Opel gezeigt. Wir kämpfen um die Arbeit von heute und um die Arbeit von morgen, mit kluger Politik für Innovationen und Zukunftstechnologien. Und wir sagen: Arbeit ist der beste Weg aus Armut.

Die SPD macht heute in Berlin einen Kongress mit dem Titel: „Heimat Metropole“. Soll das ein wahlkampftaugliches Thema sein?

Hey, guckt doch endlich mal hin, warum diese Gesellschaft eine andere ist als in den neunziger Jahren von Helmut Kohl! Die SPD hat für diesen Kongress in Berliner Clubs und Kneipen eingeladen, und die Resonanz war groß. Und was wir zu sagen haben, ist ja auch interessant. Rot-Grün hat den ungeheuren Modernisierungsschub in den Großstädten und der ganzen Gesellschaft vorangetrieben. Zum Beispiel bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften. Und durch unsere Politik wird endlich anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Wir haben Integration befördert. Auch wenn noch viel zu tun bleibt.

Das wäre?

Zum Beispiel das kommunale Wahlrecht für Ausländer. Heute sinken die Einbürgerungsraten in Deutschland. Wir wollen deshalb das Optionenmodell ändern – also den Zwang, sich mit 18 Jahren für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden.

Das Optionenmodell galt schon bei seiner Einführung 1999 als schlechter Kompromiss. Das wollen sie nun ernsthaft ändern?

Das Optionsmodell war für Kinder mit Migrationshintergrund damals ein konkreter Fortschritt. Darauf kommt es an. Zweitens wollen wir auf dem Kongress zeigen: Die Familienpolitik hat sich grundlegend verändert. Das ist nicht das Verdienst von Frau von der Leyen, sondern hat schon 1998 unter Rot-Grün begonnen. Als wir damals über den Ausbau der Betreuungs-Infrastruktur geredet haben, hieß es im konservativen Lager: Damit raubt ihr den Kindern die Mütter. Im Unionsprogramm klingt das übrigens immer noch so. Spätestens hier müsste jedem aufgehen, dass die immer noch nicht im Heute angekommen sind.

Geben sie jetzt den Feministen?

Ist es Feminismus, wenn ich sage: Wir brauchen die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Kindern? Im CDU-Programm heißt es: Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf – als ob das ein entweder-oder ist. Für die allermeisten Familien gibt es dazu doch überhaupt keine Alternative.

Apropos Frauen im Job. Im Wahlprogramm der SPD gibt es eine krude Passage über`s Ehegattensplitting. Es soll ein bißchen weg, aber nicht wirklich. Warum will die SPD das frauenfeindliche Splitting nicht endlich abschaffen, wie sie es schon lange versprochen hat?

Wir brauchen auf jeden Fall eine Veränderung. Wie die Regelung jetzt ist, ist sie ungerecht.

Und das Gleichstellungsgesetz für Frauen in der Wirtschaft? Seit Ewigkeiten angekündigt, von Schröder wieder gecancelt. Kommt das endlich?

Das Gleichstellungsgesetz kommt – wenn ich Kanzler bin – mit einer Initiative für Frauen in Führungspositionen. Es geht um 40 Prozent Frauen in Aufsichtsräten.

50 Prozent wären Ihnen wohl zuviel?

Die Hälfte Frauen gibt es erst einmal in meinem Kabinett.

Nach einem Wahlsieg sieht es für die SPD nun nicht gerade aus. Aber auch die Union hat gerade ein Problem: Sie muss erklären, wie sie trotz riesiger Neuverschuldung und mitten in einer Wirtschaftskrise die Steuern senken will. Freut Sie das?

Freuen ist das falsche Wort. Gut ist, dass die kritische Öffentlichkeit genau hinschaut. Denn was die Union verspricht, ist wirklich unseriös. Dagegen haben wir ein realistisches Regierungsprogramm vorgelegt. Wir halten Bildung für entscheidend. Wir müssen alle Kinder optimal fördern. Die Ganztagsschule ist da unverzichtbar. Das aber kostet Geld.

Und woher wollen Sie das nehmen?

Wir werden den Steuersatz für die Top-Verdiener um zwei Prozent erhöhen, um damit Bildung zu finanzieren. Dieser Bildungssoli ist notwendig und gerechtfertigt. Viele, auch einige in der SPD, haben gesagt: Bloß keine Steuererhöhungen vor der Wahl ankündigen. Für mich ist das aber eine Frage der Glaubwürdigkeit. Und die Steuerdebatte der Union zeigt jetzt, dass man mit leeren Steuersenkungsversprechen einfach nicht glaubwürdig ist.

Aber auch die SPD verspricht Steuersenkungen. Sie wollen den Eingangssteuersatz von 14 auf 10 Prozent senken.

Das stimmt. Aber wir werden das gegenfinanzieren, zum Beispiel durch die Börsenumsatzsteuer und die Abschaffung von Steueroasen. Das ist der Riesenunterschied zur Union, bei der nichts gegenfinanziert ist.

Die zweiprozentige Erhöhung des Spitzensteuersatzes bringt nur zwei Milliarden Euro im Jahr.

Zwei bis drei Milliarden.

Warum sperren Sie sich so dagegen, die Vermögenssteuer wieder einzuführen?

Ich fordere lieber was, das sich tatsächlich realisieren lässt: zum Beispiel eine Börsenumsatzsteuer.

Laut DIW-Studie würde die Vermögenssteuer dem Staat jährlich zwölf bis vierzehn Milliarden Euro bescheren. Warum wollen sie das nicht?

Eine verfassungsgemäße Vermögenssteuer – private Unternehmen hat das Verfassungsgericht ja ausgenommen – würde einen nicht mal annähernd zweistelligen Milliardenbetrag bringen, so der Finanzminister.

Viele Wirtschaftsexperten behaupten, dass es ohne massive Steuererhöhung, etwa der Mehrwertsteuer, nicht gehen wird. Davon steht nichts im SPD-Programm.

Weil wir die nicht wollen. Es wäre grundfalsch, den Aufschwung, der sich hoffentlich 2010 zeigt, mit derartigen Steuer- oder Abgabenerhöhungen abzuwürgen.

Die spinnen, die Experten?

Es sind dieselben Experten, die uns vor ein paar Monaten geraten haben, noch viel mehr Schulden aufzunehmen und noch mehr in das Konjunkturprogramm zu pumpen. Wir haben demgegenüber getan, was sinnvoll und zu verantworten war: Investitionsprogramm für Städte und Gemeinden, Kindergärten und Schulen, um die Konjunktur zu stabilisieren. Auch die Umweltprämie für Autos ist nützlich. Und vor allem funktioniert das Kurzarbeitergeld. Ich mag mir nicht vorstellen, welche Stimmung wir hätten, wenn die 1,1 Millionen, die jetzt in Kurzarbeit sind, arbeitslos wären.

2010 wird es im Haushalt ein Hundert-Milliarden-Loch geben. Eine Pleitewelle kündigt sich an. Laut OECD werden wir bald 5,1 Millionen Arbeitslose haben. Die Wachstumsprognose für 2010 liegt bei Null. Das sind doch Horroraussichten.

Ich sagen Ihnen: Der wirkliche Horror käme, wenn wir nichts getan hätten!

Können die Parteien in dieser Lage nicht wenigstens ein bisschen die Wahrheit sagen?

Ich sage die Wahrheit. Diese Krise ist ohne Beispiel. Aber es reicht nicht zu beschreiben. Viel wichtiger ist, richtig zu handeln. Natürlich gibt es das Risiko wachsender Arbeitslosigkeit. Und natürlich kann das Konjunkturprogramm nicht alles kompensieren, was im Export wegbricht. Gerade deswegen müssen wir alles tun – nicht nur um Arbeitsplätze zu sichern, sondern um die Arbeit von morgen zu schaffen.

Geschenkt. Das Problem ist, dass die Politiker auf das Wachstum warten wie auf den Weihnachtsmann. Aber was wenn der nicht kommt? Was, wenn die Nullwachstumprognose stimmt?

Der Weihnachtsmann wird ja wohl hoffentlich auch dieses und nächstes Jahr kommen! Und im Übrigen habe ich gerade ein Konzept für Leitmärkte und Leittechnologien des 21. Jahrhunderts vorgelegt. Wir wollen damit eine Million neue Arbeitsplätze schaffen, und ich bin sicher: Das geht.

Trotzdem haben wir eine obskure Situation. Alle wissen, dass harte Zeiten kommen. Doch im Wahlkampf wird der Himmel rosarot gemalt.

Sie führen ein Interview mit Steinmeier, nicht Merkel oder gar Pofalla. Und ich mach nun wirklich nicht auf naive Euphorie. Ich habe auf dem Parteitag klipp und klar gesagt: Mit den Belastungen dieser Krise müssen wir über Jahre leben. Aber wir können doch nicht die Hände in den Schoß legen. Jetzt entscheidet sich, ob wir gestärkt aus der Krise kommen oder nicht. Und neben allen Gefahren sehr ich da enorme Chancen. Zum Beispiel, dass Deutschland zum weltweiten Ausrüster für die Umwelttechnik des 21. Jahrhunderts wird.

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