Besuch aus Italien: Kein Chaos, wie erholsam

24 Jugendliche aus einem der verrufensten Stadtteile Neapels sind zu Besuch in Bremen. Die Armut in der Stadt wird ihnen dabei nicht begreiflich

Und das Meer läuft doch weg: Italiener am Nordseestrand Bild: Christine Spiess

Giuseppe, Enza, Giusi und all die anderen stehen in Cuxhaven-Duhnen am Deich, schauen auf das ablaufende Wasser. Es ist also wahr, man fährt ans Meer und das Meer läuft davon. Sie schauen auf das Watt, die großen Containerschiffe, das gleißende Licht und sind tief beeindruckt, dass das Meer so anders aussehen kann als bei ihnen zu Hause im Golf von Neapel.

24 Jugendliche aus Neapel sind zu Besuch in Bremen, begleitet werden sie von ihrem Pfarrer Don Antonio Loffredo. Sie sind zu Hause in einem ganz besonders verrufenen Viertel Neapels, im Rione Sanità, am Rande der historischen Altstadt. Kein monströses Neubauviertel, sondern ein sehr altes Viertel mit verfallenen, barocken Palazzi, den typischen, italienischen hohen Wohnhäusern, und malerisch über die Straße gespannter Wäsche. 15.000 Menschen leben auf einem Quadratkilometer. Weit über 30 Prozent sind arbeitslos, die organisierte Kriminalität ist immens, der Drogenhandel floriert, die Camorra ist allgegenwärtig. Kaum ein Tourist wagt sich hinein.

Dieter Richter, emeritierter Germanistikprofessor aus Bremen hat es doch getan: Er traute sich hinein in die Sanità, weil er Don Antonio kannte, der als junger Theologiestudent in Tübingen bei Hans Küng studiert hat. Er hat sich die Sanità nicht ausgesucht, vor neun Jahren hat ihn der Bischof dorthin versetzt.

Aber er ist im Nachbarviertel aufgewachsen, er kannte die Probleme - und wusste, (an)klagen hilft nichts, er musste etwas tun. Er wollte aber nicht einfach Sozialprojekte initiieren, er wollte die Lebenssituation vor allem der Jugendlichen nachhaltig verbessern und dafür sorgen, dass sie ein positives Bild von sich und ihrem Viertel entwickeln. La Sanità ist nicht nur ein besonders heruntergekommenes Viertel, es ist zugleich eines mit unendlichen wertvollen Kunstschätzen, um die sich die Stadt nicht kümmert und die kein Tourist besichtigt.

Die Kunst, davon ist Don Antonio überzeugt, ist das einzige, was die Menschen in seinem Viertel retten kann, und der Sinn für Schönheit. Deshalb gründete er vor acht Jahren gemeinsam mit Jugendlichen aus dem Viertel eine Kooperative, La Paranza. Sie versucht, Arbeit und verlässliche Strukturen zu schaffen und den Jugendlichen eine Perspektive zu geben. Zugleich aber will sie das Viertel aus der unheilvollen Isolierung lösen, es öffnen und für Touristen zugänglich machen. Die Kooperative bietet touristische Führungen an, durch die verschiedenen Kirchen, die Katakomben und das Viertel. Jugendliche organisieren "visite serali", abendliche Events in der Kirche mit theatralen Zeitreisen und einem festlichen Essen in der alten Sakristei. Für diese Projekte lernen sie Theater zu spielen, Kostüme zu nähen, für die nötige Technik zu sorgen, zu kochen, eine festliche Tafel zu decken. Über dem nun restaurierten Kreuzgang ist ein kleines, von einem renommierten Innenarchitekten gestaltetes Hotel entstanden. Es gibt Theater-, Tanzprojekte, ein Jugendorchester. Die Großen kümmern sich um die Kleinen, dann sind sie beschäftigt, weg von der Straße.

Giuseppe weiß jetzt ganz genau, was er später einmal werden will: Schauspieler, genau wie der berühmte Totò, der auch aus der Sanità stammte. Wäre er nicht so in die Kooperative eingebunden, sagt der 18-jährige Leo ganz freimütig, dann würde er kaum noch zur Schule gehen, rumhängen und krumme Dinger drehen. Der Elektriker Salvatore wäre, wie etwa 50 Prozent der Jugendlichen, immer noch arbeitslos.

Einmal im Jahr fährt Don Antonio mit den Jugendlichen weg, ins Ausland, damit sie wissen: Es gibt nicht nur die Sanità. Als sich Dieter Richter und seine kunstgeschichtlich interessierten Bremer durch die Sanità führen ließen, waren sie nicht nur von den Kunstschätzen begeistert. Spontan beschloss einer, die Jugendlichen und Don Antonio nach Bremen einzuladen - nach alter hanseatischer Art will er nicht, dass sein Name bekannt wird. Als der Hotelier Marc Cantauw davon hörte, ließ er die Gruppe unentgeltlich in seinem Hotel wohnen.

Seit fünf Tagen sind sie nun in Bremen zu Besuch und sie sind begeistert. Ganz besonders beeindruckt sie die Stille, der gut funktionierende Nahverkehr. Kein Chaos, wie erholsam. Ganz und gar unvorstellbar aber war für sie, dass es in diesem aufgeräumten Bremen viele Arbeitslose und viele Arme gibt. Armut, meinten die Jugendlichen, ist hier wohl viel versteckter.

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