US-Gesundheitsreform vertagt: "Sozialistische Medizin"

Präsident Obama streitet für eine Gesundheitsreform, denn 45 Millionen US-Bürger sind unversichert. Doch der Widerstand ist groß. Jetzt wurden die Verhandlungen in den Herbst vertagt.

Im Schweiße seines Angesichts: Obama bei einer Rede für die Gesundheitsreform. Bild: reuters

WASHINGTON taz/afp | Bei seinem ehrgeizigen Projekt einer Reform des US-Gesundheitswesens hat Präsident Barack Obama einen ordentlichen Dämpfer erhalten. Der US-Senat will sich nach Aussage des demokratischen Mehrheitsführers Harry Reid erst nach der Sommerpause mit der Reform beschäftigen. Obama sagte am Donnerstag in Washington, dies sei "kein Problem", er wolle nur, dass "wir weiterhin daran arbeiten".

"Ich denke, es ist besser, ein qualitativ gutes und durchdachtes Produkt zu haben, als irgendetwas durchzupeitschen", sagte Reid in Washington. Der Finanzausschuss des Senats werde den Gesetzentwurf aber bis zum Beginn der Sommerpause am 7. August fertigstellen, sagte der Senator aus dem US-Bundesstaat Nevada.

Obama, der die Gesundheitsreform zu einem großen Wahlkampfthema gemacht hatte, sagte daraufhin, dies sei für ihn "kein Problem", solange er den Eindruck habe, dass weiterhin daran gearbeitet werde, diese "schwierigen Fragen" zu lösen. "Ich will nicht, dass sich diese Dinge aus schlicht politischen Gründen verspäten", sagte Obama in Washington. Er forderte die Abgeordneten auf, weiterhin ehrgeizig an dem Projekt zu arbeiten. "Ich möchte, dass wir bis Herbst damit fertig sind", sagte Obama.

Istzustand: Es gibt keine gesetzliche Krankenversicherung. Etwa 83 Prozent der US-Amerikaner sind in einer privaten Krankenversicherung, rund 60 Prozent davon sind über den Arbeitgeber versichert. Nur ein geringer Teil der Versicherten hat Anspruch auf staatliche Gesundheitsfürsorge. Die US-Amerikaner wenden etwa 15,3 Prozent des Bruttosozialprodukts für ihr Gesundheitssystem auf, es ist damit weltweit das teuerste.

Gescheiterte Projekte: Die Geschichte von Reformvorhaben geht bis zu Theodore Roosevelt zurück, der 1912 mit der Idee einer allgemeinen Krankenversicherung in den Wahlkampf zog und verlor. Auch die Präsidenten Harry S. Truman und John F. Kennedy kamen mit ihren Vorhaben im Kongress nicht durch. Erst Lyndon B. Johnson wurde 1965 die Ehre zuteil, das Gesetz zu unterzeichnen, das staatliche Gesundheitsprogramme wie Medicare (für Menschen über 65) und Medicaid (für Arme, Behinderte oder Blinde) zuließ. Bill Clinton, der 1994 mit seinem Reformplan am Widerstand der Versicherungslobby scheiterte, konnte 1997 Versicherungsschutz für Kinder aus sozial schwachen Familien erreichen. SEI

Wie mühselig das Regieren manchmal ist, war im Gesicht des US-Präsidenten schon am Mittwoch deutlich zu lesen. "Ich weiß, dass die Menschen skeptisch sind", sagte ein müde und fahrig sprechender Barack Obama. "Sie fragen sich, was habe ich von der Reform?"

Am Mittwochabend hatte das Weiße Haus zur besten Sendezeit eine Pressekonferenz Obamas einberufen mit der unmissverständlichen Absicht, auf den seit Wochen über die Gesundheitsrefom streitenden Kongress Druck auszuüben und direkt zum Wahlvolk zu sprechen.

Obamas Auftritt wurde kurzfristig auf 20 Uhr vorgezogen, da um 21 Uhr im US-TV die heißeste Talentschau, "American Idol", läuft. Obama, der früher locker Einschaltquoten von 45 Millionen erzielte, hätte mit seiner Gesundheitsreform alt ausgesehen.

Die entspannte Selbstsicherheit, Obamas Markenzeichen, hatte ihn am Abend ohnehin sichtlich verlassen. Mit Sätzen wie: "Ich habe als Präsident einen Leibarzt, der mich begleitet. Ich bekomme die beste Gesundheitsversorgung, es geht hier nicht um mich", verschenkte er kostbare Minuten, in denen der alte Obama mit etwas Poesie und mehr Überzeugungskraft den Wählern erklärt hätte, warum ein funktionierendes Gesundheitssystem den Kampf wert ist.

In den letzten Wochen hatte Obama nahezu täglich seine Ideen zur Gesundheitsreform vorgetragen. Viel Neues war nicht zu hören: Die Reform soll zu Teilen aus Steuerauflagen für Spitzenverdiener finanziert werden - das betrifft Menschen mit mehr als 1 Million Dollar Jahreseinkommen. Und: "Wenn ich einen Entwurf vorgelegt bekomme, der die Reform durch die Besteuerung der Mittelklasse finanziert, bin ich dagegen."

Es war ein Tag, an dem die oppositionellen Republikaner erneut durchblicken ließen, dass sie alles tun werden, um nichts zu tun. An dem die demokratische Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi behauptete, die notwendigen Stimmen im Abgeordnetenhaus beisammenzuhaben und führende konservative Demokraten ihr postwendend erklärten, dass ein Deal ja wohl noch in weiter Ferne sei. Das alles ist großes Kino für die Endlos-Nachrichtenprogramme der Kabelkanäle, die Zitate wie das des stramm konservativen Republikaners Jim DeMint rauf und runter beten, der kürzlich unkte, die Gesundheitsreform werde "Obamas Waterloo" sein.

Worum geht es? Die Debatte kreist um rund 2,5 Billiarden US-Dollar, so viel geben US-Amerikaner jedes Jahr für ihre Gesundheitsversorgung aus. Das ist pro Kopf drei- bis viermal mehr als Bürger europäischer Staaten. Dafür erhalten sie nur bescheidenen Gegenwert.

Beschämende Raten bei Säuglingssterblichkeit, Heilungserfolgen bestimmter Krankheiten und Prävention rücken die USA zum Teil statistisch in die Nähe von Entwicklungsländern. Hinzu kommt, dass über 45 Millionen US-Bürger unversichert sind. Sie erhalten Behandlung nur in der Krankenhausnotaufnahme und treiben damit die staatlichen Ausgaben in astronomische Höhen.

Obama und mit ihm die große Mehrheit progressiver Demokraten möchte die historisch einmalige Chance nutzen, dies zu korrigieren. Die Demokraten haben das Sagen im Weißen Haus und im Kongress. Doch nun drohen ausgerechnet die Genossen aus den eigenen Reihen, Obamas Vorhaben scheitern zu lassen. Einige sehen buchstäblich rot, weil Obama ein staatliches Gesundheitsprogramm aufbauen will, das allen Zugang zu Krankenversicherung und guter Behandlung ermöglichen und zugleich Kosten senken soll.

"Sozialistische Medizin", so lautet nicht nur bei Republikanern der Warnruf. Laut Gerüchten basteln diese sogenannten blue dogs, konservative Demokraten, hinter verschlossenen Türen an einem Gegenentwurf, einer Art "Ko-op"-Lösung, die den Staat partout da raushalten will bei dem, was für viele US-Amerikaner traditionell Sache des freien Spiels der Marktkräfte sein soll.

Vor einigen Wochen hatte alles so vielversprechend ausgesehen. Nach dem Kraftakt des ersten US-Klimagesetzes hatte Obama angekündigt, bis zum August vom Kongress einen Entwurf für eine Gesundheitsreform auf dem Tisch haben zu wollen. Die Demokraten machten sich in drei unterschiedlichen Ausschüssen in beiden Häusern des Parlaments mit Eifer an die Arbeit. Und wurden kurz darauf gewahr, dass dies nicht umsonst eines der neuralgischsten Themen der US-Innenpolitik ist. Denn seit 1912 ist der philosophische Grundkonflikt derselbe.

Obamas Bemerkung vom Mittwochabend ist daher entscheidender, als sie auf den ersten Blick erscheint. Viele US-Bürger fragen sich wirklich, was sie persönlich von einer Gesundheitsreform haben. Meinungsumfragen spiegeln eine Unentschlossenheit wider, die vor allem von dem Gefühl bestimmt wird, in der größten Finanz- und Wirtschaftskrise aller Zeiten zu stecken.

Die Furcht, dass es teuer werden könnte, 45 Millionen Einkommensschwache in Zukunft mitzuversichern, ist groß. Von daher glauben sich konservative Demokraten damit profilieren zu können, den Hüter der Staatskasse zu geben. Sie setzen zudem darauf, dass eine knappe Mehrheit der US-Bürger laut Umfragen sogar mit ihrer jetzigen Versicherung zufrieden ist. Und die Menschen, die keine haben, wollen in erster Linie Jobs und keine Grundsatzdebatte über die Rolle des Staates im öffentlichen Leben der Supermacht.

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