Journalist Georg Diez über den Tod: Ideen für Selbstbestimmung

Der Journalist Georg Diez beschreibt in einem Buch den Tod, vor allem aber auch das Leben seiner Mutter - einer unabhängigen, entschlossenen und bis zuletzt nicht gerade einfachen Frau.

Wenige Tage bevor Hannelore Diez an Brustkrebs stirbt, kommt eine Freundin sie besuchen, die sich zu ihr ans Bett setzt und ihr die Hand hält. "Meine Mutter", schreibt der Sohn, der Journalist Georg Diez, "hatte die Augen geschlossen, sie ließ es zu, vielleicht mochte sie es sogar. Dann schlug sie die Augen auf, sah Elfi an und sagte: ,Was machst du da?' Und zog die Hand weg."

Hannelore Diez lag nicht daran, empfundene Nähe und andere Gefühle in Worte oder Gesten zu fassen. Dabei war sie Therapeutin, Familienmediatorin, Leiterin einer von ihr mitbegründeten Beratungsstelle für Scheidung. Ihr Job bestand vor allem im Reden über Befindlichkeiten. "Wir konnten über alles sprechen? Meine Mutter glaubte das sicher. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass wir redeten", schreibt Diez.

In den letzten Monaten vor ihrem Tod besucht der Sohn seine Mutter immer wieder in ihrer kleinen Wohnung in der Münchner Innenstadt. Es ist wie in einem Kammerspiel, das Dekor ist spärlich: ein Teller mit Kuchen, ein Glas Wasser, eine Wolldecke auf ihrem Schoß. Sie sitzen auf der Terrasse oder im Wohnzimmer, oder er sitzt an ihrem Bett. Zwölf Jahre liegt die erste Krebsdiagnose zurück, als Hannelore Diez im Dezember 2006 stirbt.

Georg Diez, Jahrgang 1969, ist Autor der Süddeutschen Zeitung. Als Journalist schreibt er viel über Theater und Literatur. Über die Rolling Stones hat er vor zwei Jahren ein interessantes Reclam-Bändchen verfasst. Kürzlich ist er zum zweiten Mal Vater geworden. Das Buch heißt "Der Tod meiner Mutter" und ist soeben im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln erschienen. Es hat 208 Seiten.

Den Verlauf der Krankheit macht Georg Diez zur Rahmenerzählung. Die Binnenerzählung handelt von seiner Kindheit und Jugend in der auf Mutter und Kind zusammengeschnurrten Kleinstfamilie - einer Lebensform, die in den Siebzigerjahren in der Bundesrepublik entstand. Diez sieht im Sterben seiner Mutter "vieles von dem, was ihr Leben bestimmt hatte". Als der Krebs sich in ihrem Körper ausbreitet, legt sie eine Liste an, "Ideen für Selbstbestimmung und Veränderung": "eigenes Geld, Möglichkeit für Ortsveränderung, eigenes Telefon, eigene Wäsche, eigener Abfall, eigene Sicht d. Geschichte, eigenes Papier". Das Wichtigste für die gesunde und die kranke Hannelore Diez ist das, was sie unter Unabhängigkeit versteht: Abstand halten, bloß nicht auf andere angewiesen sein. Sonst schnappt die Falle zu. Sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens allein.

Mitte der Siebzigerjahre, als Diez sechs Jahre alt war, ließen seine Eltern sich scheiden. Der Vater, ein Pfarrer, heiratete bald wieder. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war freundlich, doch offensichtlich nicht besonders interessant. Im Buch sind ihm nur ein paar Absätze gewidmet. Über seine Mutter aber schreibt Diez: "Sie ließ mich allein mit der Frage, was eine Familie ist." Immerhin brachte sie, geboren 1935, ihrem Sohn bei, wie Familien nicht sein sollten. Ihr Vater, ein Ingenieur, verprügelte die Töchter mit dem Rohrstock, die Mutter schwieg.

Hannelore Diez entkam dieser Familie, studierte Kirchenmusik und Orgel (ohne gläubig zu sein), ging zum Studium in die Schweiz, wo sie ihren späteren Mann kennen lernte, der ihr aufgeschlossen und weltoffen erschien. Nach ein paar Ehejahren musste sie aber feststellen, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter als Theorie zwar einigermaßen funktionierte, die Praxis der Kernfamilie davon aber noch unberührt geblieben war. Sie fand, dass Menschen sich in einer Beziehung "gegenseitig gewachsen" sein sollten, notiert ihr Sohn dreißig Jahre später. Nach der Scheidung begann sie ein spätes Studium der Sozialpädagogik.

Sie färbte sich die Haare hennarot: "Es gibt ein Foto aus dieser Zeit, da hat sie sehr lange lockige Haare, die sehr rot glänzen, sie lacht, als könne sie es selbst nicht glauben, wie viel Freiheit einem das Leben ermöglicht, wenn man sich nur traut."

Sicher kennt Georg Diez die unter Historikern wenig umstrittene Einsicht, dass die Frauenbewegung der Siebzigerjahre nicht die Ursache für den sozialen Wandel dieser Zeit war, sondern eine Folge. Deshalb erstaunen solche etwas zickigen Sätze wie dieser: "Für Frauen wie meine Mutter war die Emanzipation eine Gelegenheit, Verletzungen zurückzugeben."

Wirft Diez seiner Mutter vor, mit ihren "Ideen für Selbstbestimmung" die Familie zerstört zu haben? Will er am Ende selbst Verletzungen zurückgeben? Vielleicht. Teilweise. Und warum auch nicht? Eher ist es aber so, dass Diez ein entschieden anderes Verständnis von Familie hat als seine Mutter. "Familie war für sie ein schwieriges Wort", schreibt er, "sie war davor geflohen, vor diesem Wort, dann hatte sie es gesucht, dann war sie wieder geflohen."

Während seine Mutter langsam stirbt, erwarten Diez und seine Frau ihr erstes Kind. Das Mädchen wird nur ein paar Wochen nach dem Tod ihrer Großmutter geboren. Für Georg Diez soll Familie Loyalität, Gemeinsamkeit und Geborgenheit bedeuten. Schließlich kommt er ja nicht wie seine Mutter aus einer Familie, in der der Mann prügelte und alle anderen stillhielten. Familien von heute sind jedenfalls nicht mehr undurchdringliche Strukturen. Sie sind Flickenteppiche, zusammengestückelt aus Wunschdenken, einem gewissen Trotz, Hoffnung und Sehnsucht, grobmaschig gewebt aus zartem Stoff.

Die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn über die verschiedenen Familienmodelle läuft erwartungsgemäß nicht ohne Kränkungen ab. Diez teilt seiner Mutter mit, dass er heiraten wird. "Sie schaute mich an wie einen Mann, der mehr oder weniger zufällig in ihr Haus geraten ist; dann weichte ihr Blick auf, und sie sah mich an wie eine Mutter." Diez kauft gemeinsam mit seiner Frau in Berlin eine Wohnung. Er ist sich bewusst, dass dies ein symbolischer Akt ist: Wohnungsbesitzer, das sind für seine Mutter immer die anderen gewesen, diejenigen, die, meist als Paar, für den Winter des Lebens vorsorgten. Jetzt gehört ihr Sohn zur anderen Seite. Entsprechend ruppig ihre Reaktion: "Was macht ihr, wenn ihr da nicht mehr wohnen wollt? Dann habt ihr diese Wohnung am Bein."

Am Tag der Trauung isst Diez mit seiner Mutter und der großen, intakten Familie seiner Braut in einem Restaurant zu Abend und bemerkt: "Familie, das sah meine Mutter an diesem Abend, konnte auch Stärke bedeuten, und das machte sie skeptisch und neidisch und traurig. Sie spürte eine Schwäche, die körperlich war, aber auch biografisch. Sie war krank. Sie war allein."

Diez beschreibt seine Mutter als schwierige Frau. Sie ist kühl, abweisend und manchmal verächtlich, zumal denjenigen gegenüber, von denen sie glaubt, sie seien zu eilig Kompromisse eingegangen. "Verlogen" nennt sie solche Leute. Die Krankheit macht sie schwach und ängstlich, Empfindungen, die sie nicht kennt und die sie überfordern, gerade weil sie ihr Leben lang so tapfer war. Sie ruft den Sohn in Berlin viermal am Tag auf dem Handy an und sagt doch nur Unfreundliches oder gar nichts. Man ahnt, wie schwer es ist, Sohn und wichtigste Bezugsperson einer Mutter zu sein, deren größtes Bedürfnis darin besteht, unabhängig zu sein, und wie schwer es ist, diese Mutter beim Sterben zu begleiten.

Diez findet, dass das Leben seiner Mutter, das zu Ende geht, anstrengend, aufreibend und einsam war. Aber sein Mitleid ist aufrichtig und ohne Anmaßung. Er sieht den historischen Kontext, und an keiner Stelle behauptet er, dass er es besser hinbekommen hätte als sie.

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