Die SPD am Tag danach: "Vierzig Mordmeldungen"

Nach dem Debakel deutet Parteichef Müntefering seinen Rückzug an. Steinmeier kann vermutlich weitermachen – auch wenn die Berliner SPD seinen Rückzug fordert.

"40 Mordmeldungen" gab es - so sagte Franz Müntefering. Bild: dpa

Wenn etwas zu weh tut, stellt sich der Körper taub. Endorphine werden ausgeschüttet, die den Schmerz für eine Weile blockieren. So ähnlich wirkte die SPD am Tag nach ihrem Wahldesaster. Alles ging weiter wie bisher. Andrea Nahles, SPD-Vize und Vertreterin der SPD-Linken, warnte vormittags eilig vor Personaldebatten. Und vor Debatten über Rot-Rot. Auch die ausgelaugte SPD-Linke will nichts riskieren.

Am Montagnachmittag trat Franz Müntefering im Willy-Brandt-Haus auf. Er kam eine Viertelstunde zu spät, die Parteivorstandssitzung lief noch. "Alle", so Müntefering routiniert, wollen, dass "Steinmeier am Dienstag in der Fraktion zum Oppositionsführer gewählt wird". Es ist die immer gleiche Aufmunterungsrhetorik, Sätze, die wie Endorphine wirken. Es soll nicht weh tun.

Doch etwas ist anders. "Es gab vierzig Mordmeldungen" sagt Müntefering, er meinte natürlich "Wortmeldungen". Ein Versprecher, der andeutet, um was es geht: seinen Rücktritt. Einer muss schuld sein an der Niederlage. Wenig später kündigt Müntefering durch die Blume an, dass er bereit ist zurückzutreten. Mit dieser Vermutung "liegen Sie nahe an der Wahrheit", sagt er auf Nachfrage eines Journalisten. Überraschend kommt das nicht. Nur der Zeitpunkt ist unklar, spätestens beim Parteitag im November.

"Wir haben die Wahl nicht in den letzten elf Monaten verloren, sondern in den letzten elf Jahren", sagt Andrea Nahles. Damit hat sie Recht. Allerdings so, wie SPD-Linke oft Recht haben – folgenlos. Das Desaster der SPD ist noch immer ein Echo der Schröder-Politik. 1,4 Millionen frühere SPD-Wähler sind nicht zur Wahl gegangen, an die Linkspartei hat die SPD fast 900.000 Stimmen verloren. Fast die Hälfte jener, die nicht mehr SPD gewählt haben, gaben als Grund an: Hartz IV, Mangel an sozialer Gerechtigkeit. Die Agenda hängt der SPD, trotz der Forderung nach Mindestlohn und Börsenumsatzsteuer, wie ein Fluch an. Und es macht nicht den Eindruck, als hätte sie eine Idee, wie sie dies ändern kann.

Die Machtarchitektur der Oppositions-SPD ähnelt jedenfalls, abgesehen vom angedeuteten Münte-Rücktritt, stark der alten. Frank-Walter Steinmeier wird Fraktionschef, Oppositionsführer und wahrscheinlich auch Parteichef. Das will er zumindest.

So wird Steinmeier, der das größte Wahldesaster der Parteigeschichte verantwortet, die neue zentrale Figur. Das ist merkwürdig genug - noch seltsamer ist, dass die ausgelaugte SPD-Linke bislang dagegen nicht aufmuckt. Dass Steinmeier sich vom moderaten Technokraten in einen energischen Oppositionsführer verwandeln kann, der Merkel und Lafontaine Kontra gibt, ist eine sehr vage Hoffnung.

Steinmeier verfügt zwar über eine erstaunliche Lernfähigkeit - doch ob er in der Lage ist, seine Verachtung für die Linkspartei zu überwinden, ist mehr als fraglich. Die Machtfülle, mit der die SPD Steinmeier offenbar ausstatten will, ist kein Zeichen von selbstbewusster Stärke und Kontinutität. Es ist der Griff zur Notbremse.

Und nur vereinzelt regt sich Widerstand. Aus der SPD Berlin etwa sickert über den RBB ein Papier vom Montagabend an die Öffentlichkeit, in dem der erweiterte Landesvorstand der Hauptstadt-SPD eine personelle Erneuerung auf Bundesebene fordert. Ein glaubwürdiger Neuanfang, heißt es dem Rundfunksender zufolge darin, sei nur ohne Müntefering, Steinmeier und Steinbrück möglich. In Berlin hat die SPD besonders viele Federn lassen müssen, bekam gar 500 Stimmen weniger als die Linkspartei.

In den Wahlkreisen ist die Krise der SPD voll angekommen. Die SPD-Fraktion im neuen Bundestag wird um 76 Abgeordnete kleiner sein - ein Drittel weniger. Darunter sind keineswegs nur Hinterbänkler. Betroffen sind auch Ausschussvorsitzende oder aufstebende Talente, denen vor drei Tagen noch eine glänzende Karriere in Aussicht schien.

Die Ratinger SPD-Abgeordnete Kerstin Griese war schlicht fassungslos, als sie ihren Wahlkreis verlor und dass sie auch trotz des scheinbar sicheren 14. Platzes nicht über die NRW-Landesliste in den Bundestag einziehen wird. "Ich werde weiter Politik machen, ob im Parlament oder von außen", sagte die Vorsitzende des Familienausschusses des aktuellen Bundestages, der auch Stunden nach dem Ergebnis der Schock anzumerken war.

Gleichzeitig beginnen in der SPD erste zaghafte Lockerungsübungen in Richtung Linkspartei. Leise Signale kommen aus Erfurt, wo eine rot-rot-grüne Regierung möglich ist, wenn die SPD will. Steffen Lemme, DGB-Vorsitzender in Thüringen und Matschie-Getreuer, lobt "große inhaltliche Übereinstimmungen bei Rot-Rot-Grün". Die Chancen für Rot-Rot-Grün in Erfurt sind, so Lemme, nach der Bundestagswahl "klar gestiegen".

Am Mittwoch wird die SPD in Erfurt entscheiden, ob sie Rot-Rot-Grün wagt oder das macht, womit Steinmeier gerade gescheitert ist - nämlich Juniorpartner der CDU werden. Es stimmt: Länderkoalitionen werden nicht nach Bundesratsmehrheiten entschieden. Doch die Aussicht, Schwarz-Gelb im Bundesrat mit rot-roten Bündnissen zu kontern, spielt eine Rolle.

Karl Lauterbach, der es in "Leverkusen/Köln IV" als Direktkandidat in den Bundestag geschafft hat, hofft auf den Wahlkampf in NRW im nächsten Mai. "Es wird einen Lagerwahlkampf zwischen Rot-Rot-Grün und Schwarz-Gelb geben. Es wäre lächerlich, danach im Bund weiterhin Rot-Rot auszuschließen - vorausgesetzt, die Linkspartei bewegt sich in der Sicherheits- und Außenpolitik", so Lauterbach. Dass die NRW-Wahl die entscheidende Etappe für die Normalisierung von Rot-Rot-Grün ist, hört man bei SPD-Linken schon seit gut einem Jahr.

Die Fraktion der Linkspartei ist um die Hälfte gewachsen. Die Linkspartei hat im Osten 16 Direktmandate erobert - das hätte sich dort wirklich kaum jemand träumen lassen. Nun beobachtet sie betont gelassen, was sich in der SPD tut. "Die SPD müsste jetzt in Brandenburg und Thüringen eigentlich auf uns zukommen", so Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch. Vor allem aber werde die Steuer- und Finanzpolitik von Schwarz-Gelb automatisch "SPD und Linkspartei näher bringen".

Auch Bartsch ist überzeugt, dass die Wahl in NRW die Schlüsselfrage für die rot-rot-grüne Zukunft ist. Dort "wird es eine Richtungswahl zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Rot-Grün geben".

Sollte sich die SPD bis dahin aus ihrer Schockstarre gelöst haben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.