Debatte Regulierung: Krisengeschwätz

Die Deutschen schimpfen auf die Briten, die Europäer auf die USA: Dabei greifen die Regierungen dort viel härter in den Markt ein als sie selbst.

In der Akutphase der Krise wurde die eigene Marktgläubigkeit beklagt und gewaltige Besserung versprochen: Sämtliche (!) wichtigen Finanzinstitutionen, -instrumente und -märkte sollten beaufsichtigt und reguliert werden, ebenso die Bezahlung der Finanzmanager - so steht es im Protokoll des G-20-Gipfels in London. Ein halbes Jahr später ist klar: Es wurden kaum konkrete Schritte in diese Richtung unternommen. Das Protokoll des jüngsten G-20-Gipfels in Pittsburg enthält seitenweise Versprechungen, aber keine politische Einigung auf konkrete Regulierungen für die Praxis.

Wie zur Verhöhnung der "leaders of the world" begannen zwischen den beiden G-20-Gipfeln jene (Umverteilungs-)Spiele wieder zu boomen, die vor der Krise Rohstoffpreise, Aktienkurse und Immobilienpreise zunächst in die Höhe getrieben hatten, um sie dann in die Tiefe zu reißen. In nur sechs Monaten sind Aktienkurse und Rohstoffpreise um nahezu 60 Prozent gestiegen. Neuerlich baut sich also ein großes "Absturzpotenzial" auf, das schon bald "aktiviert" werden könnte.

Der Widerspruch zwischen Rhetorik und Praxis ist in Kontinentaleuropa und insbesondere in Deutschland noch markanter als in den angelsächsischen Ländern. So plant die Obama-Administration, die "Wetteinsätze" von Finanzinvestoren auf den Rohstoff-Derivatmärkten zu beschränken. Das ist ein massiver Eingriff in den freien Markt. In Großbritannien wird die Derivatspekulation erschwert, indem eine höhere Eigenkapitalunterlegung verordnet wird. In Deutschland hingegen findet die Aufarbeitung der Krise nur in der Rhetorik statt: Eine neue Wirtschaftsethik wird eingefordert und die moralische Aufrüstung der Banker soll durch Beschränkung der Boni gestärkt werden. Die Spekulations- und Umverteilungsspiele auf den Finanzmärkten aber werden nicht ansatzweise in Frage gestellt. Allein an der Eurex in Frankfurt wird das deutsche Bruttoinlandsprodukt fast 60-mal umgesetzt. In der Praxis bedeutet dies: Wir machen weiter wie bisher.

ist Wirtschaftsforscher und lebt in Wien. Seine Schwerpunkte sind die Wirkung der instabilen Finanzmärkte auf die Realwirtschaft sowie die Analyse struktureller Veränderungen im internationalen Handel.

In Deutschland und auf EU-Ebene rechtfertigen manche PolitikerInnen, dass solche Regulierungen der Finanzmärkte nur im internationalen Gleichschritt gesetzt werden könnten. Deutschland redet sich am liebsten auf die Briten heraus, die EU auf die USA. Das ist ein Treppenwitz: Gerade diese beiden Länder bereiten de facto eine stärkere Regulation vor.

Der eklatante Widerspruch zwischen Rhetorik und Praxis hat Tradition: In den vergangenen zwanzig Jahren haben US-Politiker in ihren Sonntagsreden den freien Markt gepriesen und den Moloch Staat verdammt. In der Praxis wurde der Einfluss des Staats auf die Wirtschaft jedoch stetig ausgeweitet. Für Deutschland gilt das Gegenteil: Am Sonntag preist man die Soziale Marktwirtschaft, unter der Woche dominiert die neoliberale Praxis. Dazu einige Fakten: Seit 1991 wurden die öffentlichen Investitionen in den USA um 48 Prozent gesteigert, in Deutschland um 16 Prozent gekürzt, der Staatskonsum wurde in den USA um 31 Prozent ausgeweitet, in Deutschland nur um 26 Prozent. In den USA wurden um 12 Prozent mehr Jobs im Staatsdienst geschaffen, in Deutschland 20 Prozent eingespart.

Auch mithilfe der Konjunkturpolitik hat der US-amerikanische Staat seinen Einfluss auf die Wirtschaft massiv ausgeweitet. Seit zwanzig Jahren werden in Rezessionen die Zinsen drastisch gesenkt und die Budgetdefizite erhöht. De facto wird also eine primitive Variante keynesianischer Politik praktiziert. Demgegenüber wurde in der EU mit den Maastricht-Kriterien und dem Statut der Europäischen Zentralbank das neoliberale Konzept einer Regelbindung der Politik übernommen, ihr Hauptziel wurde überdies auf einen stabilen Geldwert und solide Staatsfinanzen reduziert, für Wachstum und Beschäftigung würden die Märkte sorgen (wenn man sie nur unreguliert "arbeiten" lasse). Die Folge: Obwohl die drei letzten Rezessionen von den USA ausgingen (1991, 2000, 2007), konnten die USA sie viel rascher überwinden. Deutschland indessen erlitt jedes Mal besonders große Wachstumsverluste.

Zur Vorgeschichte: Die Hochzinspolitik Anfang der 1980er-Jahre und die nachfolgende Verdoppelung des Dollarkurses trafen die Realwirtschaft in den USA schwer. Man zog aus dieser Fehlentwicklung radikale Lehren: Das (monetaristische) Konzept einer Steuerung der Geldmenge wurde verworfen, seither werden die Zinsen nicht nur zur Stabilisierung der Inflation, sondern auch zur Stimulierung der Realwirtschaft eingesetzt. Überdies wurde das Leitzinsniveau so stark gesenkt, dass es im Durchschnitt der letzten zwanzig Jahre deutlich unter der Wachstumsrate lag. Dies trug zur langfristigen Abwertung des Dollar bei.

Dank dieser Politik ließ sich der Spekulationsdrang umlenken, nämlich von den für die Realwirtschaft besonders wichtigen Preisen - Zinssatz und Wechselkurs - hin zu Aktienkursen und Immobilienpreisen. In der Folge wurde der Konsum der Haushalte zum wichtigsten Wachstumsmotor. Gemeinsam mit einem niedrigen Zinsniveau, einem unterbewerteten Dollarkurs und einer keynesianischen Konjunkturpolitik ermöglichten die Vermögenseffekte der Aktien- und Immobilienbooms den USA erstmals in der Nachkriegszeit ein merklich höheres Wirtschaftswachstum als in der EU. Die Folgen des unvermeidbaren Platzens der Spekulationsblasen (Aktien: 2001; Aktien und Immobilien: 2007) mildert die US-Politik durch massive Zinssenkungen und Budgetausweitungen ab. Ein Teil der Krisenfolgen wird also exportiert - und die USA überwinden die von ihnen ausgelösten Krisen viel rascher als die EU.

Die "Oberen" in Wissenschaft, Medien und Politik in Deutschland mögen bedenken: Lobpreisung der Sozialen Marktwirtschaft und Bekenntnis des Glaubens an eine unsichtbare Hand des Markts mögen opportun sein, indes: Wird in der Praxis "der" Markt gegen "den" Staat ausgespielt, wird also nicht konkret geprüft, welche Märkte zu fördern und welche zu beschränken sind, welche (gemeinschaftlichen) Anliegen der Staat besser bewältigen kann, und wo er sich mehr zurückziehen kann, handelt die Politik also auch unter der Woche marktreligiös, so ist das Ergebnis miserabel (für die meisten).

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