Europa und die Chinesen: Von der Mauer zur Firewall

Die Große Firewall der chinesischen Regierung ist so undurchdringlich wie die Berliner Mauer. Wann kommt der moderne Kennedy und sagt: "Ich bin ein Chinese"?

Solidarität mit den Eingeschlossenen: John F. Kennedy bei seinem Berlin-Besuch. Bild: dpa

Als ich im Jahr 2006 für drei Tage in Berlin war, schaute ich mir im Prinzip nur eine einzige Sehenswürdigkeit an, nämlich die Berliner Mauer. Mit einem Freund bin ich immer wieder auf dem Pfad der Überreste der Mauer gewandert, über breite Straßen, Flussläufe. Einige nette Berliner haben uns geholfen, außerdem ist der Verlauf der Mauer durch Narben und Verwerfungen unverkennbar, aber für meinen Geschmack hat man doch etwas zu gründlich aufgeräumt: Nur ein kleiner Abschnitt der Mauer ist stehengeblieben.

Mir gefällt es, wie Künstler aus aller Welt sich dort verewigt haben. Und doch hätte ich gern etwas mehr Mauer erhalten gesehen, unsere Kinder und Enkel könnten intensiver erfahren, was für ein Leben die Berliner gelebt haben. Und so war bei meinen Freunden nach meiner Rückkehr natürlich ein Geschenk der größte Renner: Mauerstückchen im Preis zwischen drei- und sechs Euro fünfzig.

Verbannte Redakteure

Die Berliner Mauer ist ziemlich genau vor 20 Jahren gefallen, sicherlich haben die Berliner schon sehr genaue Vorstellungen, wie sie den Tag feiern werden. Wie auch immer, ich freue mich besonders über den Fall der Mauer, weil ich einen kleinen Beitrag dazu geleistet habe: Vor 20 Jahren im Mai studierte ich an einer der vielen Pekinger Universitäten. Gemeinsam mit zahlreichen anderen Kommilitonen befanden wir uns auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Hungerstreik. Natürlich wäre die Berliner Mauer auch ohne den Widerstand der Pekinger Studenten und Bevölkerung zu Fall gekommen, aber vielleicht nicht so schnell. Nicht etwa, dass sich die Berliner dafür bei mir bedanken sollen, ich freue mich nur einfach darüber.

Auf der gestrigen Pressekonferenz von “Reporter ohne Grenzen” kamen sehr viele China-Themen zur Sprache. Zum Beispiel das Problem der Behinderung und gewaltsamen Entfernung von kritischen Petenten, die meist aus ländlichen Gebieten in die Städte strömen, um Gehör zu finden. Oder das Phänomen “ca bianqiu”, hinter dem sich die Degradierung und Verbannung von Redakteuren verbirgt, die, als sie zu testen versuchten, wo die Schmerzgrenze der Obrigkeit liegt, prompt getroffen haben.

Und natürlich kam auch das Thema GFW, China’s Great Fire Wall, auf den Konferenztisch. Nein, nicht die chinesische Mauer, sondern eine Netztechnologie, bei der man mittels Software chinesische Internetnutzer an der Einsicht regierungsunfreundlicher Internetseiten hindern kann. Die chinesische Mauer, gebaut zum Schutz gegen die Invasion von Völkern aus dem Norden, hat eine mehr als 2000 jährige Geschichte, die GFW hingegen gibt es noch nichtmal zehn Jahre. Und sie wurde gebaut zur Schließung eines Fensters, durch das die Chinesen in die Welt blicken könnten. (Während der Olympischen Spiele im vergangenen Jahr war die GFW kurzzeitig und selektiv geöffnet.) China ist also historisch rückwärts gegangen: Von der Großen Mauer zur Großen Brandmauer.

Wo ist der Kennedy von heute?

Am 23. Juni 1963 stand Kennedy an der Berliner Mauer und sagte: “Ein Leben in Freiheit ist nicht leicht, und die Demokratie ist nicht vollkommen. Aber wir hatten es nie nötig, eine Mauer aufzubauen, um unsere Leute bei uns zu halten und sie daran zu hindern, woanders hinzugehen... Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-Berlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner."

Nun hege ich ja Versprechungen von Politikern gegenüber so meine Zweifel, aber dieser Satz Kennedys hat mich doch sehr beeindruckt. Bedauerlich ist nur, dass angesichts der noch fester als die Berliner Mauer zementierten GFW noch niemand aufgestanden ist und gesagt hat: “Ich bin ein Chinese.” Die europäischen Staats- und Regierungschefs machen dann doch lieber mit China Geschäfte und Cash, viele deutsche Autoren und Sinologen scherzen und flirten dann doch lieber mit den höfischen Gelehrten der offiziellen chinesischen Delegation.

Die ganz normalen Europäer von Madrid bis Moskau machen hingegen die Erfahrung, dass chinesische Produkte mit ihrem Niedrigpreis-Vorteil ihre eigene Reisschüssel ausstechen. Angewandt auf dieses Spiel manifestiert sich Kennedys Unteilbarkeit der Freiheit am besten. Denn: Wenn auch nur ein Mensch versklavt ist, sind alle anderen ebenfalls unfrei. Nun kommen ja diese chinesischen Billigprodukte oft aus “Blood and Sweat Shops”, die Arbeiter dort genießen keinerlei Absicherung, die Löhne sind so niedrig, dass es die Vorstellungskraft von Europäern übersteigt. Ein Produkt, das von dort kommt, ist natürlich superbillig. Aber das ist wohl die kleine Rache: Ihr kümmert euch nicht um deren Menschenrechte, dafür machen sie euch arbeitslos.

Mauern. Leider gibt es sie zwischen Mensch und Mensch: durch Sprache, Bildung, Rasse, Staatsangehörigkeit – all das sind Baumaterialien für Trennwände und Mauern. Zur Perfektion haben den Bau solcher Mauern allerdings seinerzeit die Deutschen und in der Jetztzeit die Chinesen gebracht. Der Unterschied besteht einzig im verwendeten Material: Stein und Digitaltechnologie.

Übersetzung aus dem Chinesischen von Petra Mann.

WANG XIAOSHAN, geb. 1967, ist freier Autor und lebt in Peking. Er schreibt für die chinesische Ausgabe des amerikanischen Sportmagazins Sports Illustrated. Bis 2006 war er bei der Neuen Pekinger Zeitung als Feuilletonchef tätig.

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