20 Jahre Mauerfall: Der Wandel von Wandlitz

Einst Bonzenenklave, heute eine idyllische Rehasiedlung. Manche Bewohner verklären die Zeit, als hier das Politbüro residierte: War doch alles nicht so schlimm, meinen sie.

Für viele war mit den beiden an der Spitze die Welt ganz in Ordnung: Honeckers beim Spazierengehen. Bild: AP

Der belgische Journalist sucht das Haus von Erich Honecker. Eigentlich sucht er dessen Koch, aber der ist nicht aufzutreiben. Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls will Eddy Przybilski für seine Tageszeitung eine Reportage schreiben. Am Eingang der Brandenburg Klinik haben sie ihn in den Bussardweg 6 geschickt.

Zwischen hohen Kiefern stehen helle, zweistöckige Häuser, nebeneinander in einer Reihe, schmucklos bis zur Unauffälligkeit. Przybilski ist enttäuscht: Das Haus nebenan sei schöner, ein bisschen zumindest, sagt er. Der Journalist führt ein Interview mit einer Passantin, die sich als DDR-Kind entpuppt. "War es hart, das Leben da drüben?", will er von ihr wissen. Vielleicht soll sich ein Gruselbild vor ihm aufbauen, das wäre ideal für die Reportage. Der tiefgraue Alltag der Menschen im Kontrast zu der schmucken Kulisse, dem Haus des ehemaligen Staatschefs. Nur: Honecker wohnte hier gar nicht. Sondern ein paar Häuser und eine Straße weiter, im Habichtweg 5.

Der Irrtum ist eigentlich nicht weiter schlimm, schließlich sind die insgesamt 23 Häuschen eh kaum voneinander zu unterscheiden. Aber er zeigt, wie wandelbar Vergangenheit ist. Und dass die Waldsiedlung auch nach 20 Jahren als ideale Projektionsfläche funktioniert: für eine Geschichte, die man sich eigentlich anders vorgestellt hat.

An diesem Herbsttag erscheint das Gelände so idyllisch, wie es sich für eine Rehaklinik gehört. Auf dem Teich vor dem Kurcafé schnattern die Enten, buntes Laub rauscht, Eichhörnchen huschen von Baum zu Baum, auf den Wegen wandeln Ärzte in grünen und weißen Kitteln. In den früheren Bonzenhäuschen sind heute Ärztewohnungen oder Therapieräume, im Bussardweg 6 hat die psychosomatische Abteilung der Brandenburg Klinik ihren Sitz.

Erbauen ließ die Waldsiedlung Walter Ulbricht Ende der 50er-Jahre. Die Staatsführung der DDR hatte das Gelände, das der Stadt Bernau gehörte, sich selbst überschrieben, als sie feststellte, dass das Areal bioklimatisch günstig an der Wasserscheide zwischen Ost- und Nordsee liegt. Nach den Aufständen vom 17. Juni 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn suchte sie aber vor allem einen geschützten Ort.

Ein eigener Autobahnanschluss sollte die Politobersten schnell und sicher in das 30 Kilometer entfernte Regierungszentrum von Ostberlin bringen. Zu Hause gab es Schwimmbäder für die älteren Herren und ihre Familien, Klubräume - alles im sogenannten inneren Ring der Siedlung, im äußeren lebten die Bediensteten.

Wie mag das damals, im Herbst 1989, wohl an diesem Ort gewesen sein? Als draußen, außerhalb der Siedlung, alles wankte, der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker zurücktrat? Manch Kraftfahrer habe sich geweigert, die Herrschaften weiter herumzukutschieren, schreibt der Hobbyhistoriker Paul Bergner in seinem Buch. Manch Bediensteter habe mit seinen Vorgesetzten innerlich und äußerlich abgeschlossen.

Selbst in der Kaufhalle auf dem Gelände wurde nach Honeckers Abgang im Oktober 89 das Sortiment den neuen Verhältnissen angepasst: Statt feinster Importware - Haushaltstechnik, Kleidung, Esswaren -, die über jede DDR-Norm hinausging, gab es künftig nur noch normale Delikat- und Exquisit-Erzeugnisse. Bald gab es nicht mal mehr diese.

Das Ende der ehemals geheimen Bonzenanlage ist schnell erzählt: Ende November durften zum ersten Mal Journalisten in die Waldsiedlung, im Dezember ordnete der neue Regierungschef Modrow an, das SED-Politbüro habe auszuziehen; das Gelände wurde dem Gesundheitsministerium übertragen und bald in private Trägerschaft überführt. Die Unternehmerfamilie Michels aus dem nordrhein-westfälischen Münster legte kurz darauf den Grundstein für die Brandenburg Klinik.

In jenen Tagen nach der Wende begann sich auch Paul Bergner mit der Geschichte dieses Ortes zu beschäftigen. Er arbeitete als Champignonzüchter im Stabsbunker der Siedlung. Aus dieser Art der Nachnutzung wurde zwar längerfristig nichts, Bergner aber sammelt seitdem Fakten für eine "sachliche Aufarbeitung", wie er es nennt. Er will dem einstigen Mythos Wandlitz, von dem viele sprachen, aber niemand Genaues wusste, die Realität in der Waldsiedlung gegenüberstellen. Der Rentner hat Akten eingesehen und Angestellte der Siedlung befragt. Aber auch er sagt: "Jeder lügt sich seine Geschichte zurecht. Ich ja vielleicht auch." Allein der Name sei falsch, sagt er. Die Waldsiedlung gehört zum Stadtforst Bernau und nicht, wie immer wieder kolportiert, zu Wandlitz.

Heute noch macht der 80-Jährige Führungen, auch im Fernsehen gab es schon Dokumentationen mit ihm. Er hat ein Buch geschrieben, es wird im Fremdenverkehrsamt von Bernau und, preisgesenkt, im Shop der Zeitung Neues Deutschland verkauft. Journalisten lässt er nur gegen Geld an seinem Wissen teilhaben. Frei nach Karl Marx, wie er hinzufügt: "Kulturelle Prozesse sind ökonomisch determiniert."

Kostenlos aber erzählt er von der Zeit nach der Wende: Bücherverbrennungen habe es 1990 gegeben, erzählt er. Man spürt noch heute seine Entrüstung über den Umgang mit dem Eigentum der Staatsobersten. Er selbst habe noch Dinge vor der Vernichtung gerettet, handsignierte Bildbände, Kunstwerke, Geschenke von Staatsoberhäuptern fremder Länder. Vor allem das Benehmen der "selbst ernannten Chefinquisitoren" empört Bergner - sensationsgierige Besucher aus Ost und West, Journalisten haben den Ort regelrecht überfallen und erobert, sagt er.

Auch ein weißhaariger Mann in einem verfilzten grünen Pullover erzählt: "Goldene Kloschüsseln haben die gesucht und alles rausgerissen, sogar Türklinken mitgenommen." Er guckt aus dem Fenster seines Hauses an der heutigen Bundesstraße, auf ein blaues Plüschkissen gelehnt, die Zigarettenschachtel neben sich. Früher sei er Förster für den Wald am nahe gelegenen Liepnitzsee gewesen, und als solcher war er auch ab und zu in der Siedlung. Er wurde gerufen, um Bäume abzusägen und zu fällen - "wenn Stoph und Erich gerade nicht da waren". Beneidet um ihren Lebensstil hat er sie nicht: "Da hat manch Handwerker besser gewohnt", sagt er zwischen zwei vorbeidonnernden Lastern, "als die, die da eingesperrt waren." Es scheint, als wäre von dem allgemeinen 89er-Aufbegehren gegen die Obrigkeit bei ihm eher Mitleid mit seinen Staatsführern geblieben.

Und Entrüstung ist auch bei ihm zu spüren, über die Erniedrigung, die er mit der Wiedervereinigung erfahren hat. "Von wegen bankrotte DDR, ohne uns wäre der Westen doch heute auch längst pleite", sagt der Mann. Allein die Autoindustrie! Was habe die für Umsatz durch die DDR-Bürger gemacht!

20 Jahre nach dem Mauerfall wollen sich solche Geschichten der Ewiggestrigen nur noch schwer erzählen lassen. Doch auch sie sind eine Version über die Wende von Wandlitz. Selbst wenn die meisten Bewohner der Waldsiedlung inzwischen längst tot sind - inzwischen kämpfen andere um deren Rehabilitation.

Die Geschichte rechnet sich der Förster vom Liepnitzsee denn auch so zurecht: Früher hat das Pfund Kaffee 20 Mark gekostet, und in der Gaststätte die Tasse 86 Pfennig. Heute kostet die Tasse 1,50 Euro und das Pfund 2 Euro. Da könne ja etwas nicht stimmen. Sein Fazit deshalb: "Schlimmer war es damals auch nicht."

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