Therapie: Wenn sich alles ums Essen dreht

Der Verein Dick und Dünn ist seit 25 Jahren Anlaufstelle für Menschen mit Essstörungen. In den Selbsthilfegruppen wird über alles - nicht nur über Nahrungsaufnahme - geredet.

Zeigt die Waage zu viel oder zu wenig an? - der Verein Dick und Dünn kümmert sich um Menschen mit Essstörungen. Bild: AP

Zwei junge Frauen lächeln einen an, wenn man den Gruppenraum betritt. Ihre Fotos stehen auf einem Regal. Das eine Mädchen hat ein rundliches Gesicht, ganz brav guckt sie in die Kamera. Das andere Mädchen steht auf einem Balkon, sieht dünn und zerbrechlich aus. Ein schwarzes Band liegt über dem Bilderrahmen links oben, mit Filzstift sind auf das Glas Geburts- und Todesdaten geschrieben. Beide Mädchen starben, weil sie nicht genug aßen. "Da waren wir hilflos", sagt Sylvia Baeck, Leiterin des Vereins Dick und Dünn.

Dick und Dünn ist seit 25 Jahren eine Anlaufstelle für Menschen mit Essstörungen. Jede Woche kommen 150 Menschen in das Haus an der Innsbrucker Straße. Das wichtigste Angebot sind die Selbsthilfegruppen für Menschen mit Magersucht, Bulimie und Esssucht. Außerdem geben die vier Mitarbeiterinnen Einzelberatung, Workshops für Schulklassen und Angehörigenberatung. Vier Sozialarbeiterinnen und Therapeutinnen teilen sich 2,3 Stellen, die aus öffentlicher Hand bezahlt werden. "Aber ohne viele Überstunden wäre das alles nicht zu schaffen", so Baeck.

Die Betroffenen, die zu Dick und Dünn kommen, sind zu 85 Prozent weiblich. "Frauen neigen eher zu unauffälligen Süchten, Essen oder Nichtessen gehören dazu", sagt Baeck, eine der Mitbegründerinnen des Vereins. "Bulimie war Anfang der 1980er gerade erst als Krankheit anerkannt worden." Den Impuls, den Verein zu gründen, bekam sie, die damals in der Telefonseelsorge arbeitete, als eine Freundin von ihrer eigenen Essstörung erzählte.

In den Fällen der beiden verstorbenen Mädchen habe der Verein nichts mehr machen können, sagt Baeck. Beide seien nicht zugänglich gewesen und schon so dünn, als sie zum ersten Mal kamen, dass mit reiner Beratung nicht mehr zu helfen gewesen wäre. "Die Ärzte hätten sie einweisen lassen müssen", so Baeck. Der Verein habe dazu nicht das Recht, auch die Eltern nicht - die Mädchen waren beide volljährig. Junge Frauen mit Magersucht oder Bulimie, eine Krankheit, bei der man viel isst und es dann wieder erbricht, seien oft sehr gut in der Lage, über ihre Situation hinwegzutäuschen. "Aber wenn sie nur noch 29 Kilo wiegen, ist der Körper schon so angegriffen, dass man medizinisch eingreifen muss."

Neben Magersucht und Bulimie ist Esssucht eine der häufigsten Störungen, mit denen Menschen sich an den Verein wenden. Die Betroffenen bekommen plötzliche Heißhungerattacken und verlieren die Kontrolle über das, was sie zu sich nehmen. "Ich habe so viel gewogen, dass meine Waage gar nicht mehr messen konnte, wie viel", erzählt Matthias Gruber*. 165 Kilo bei 1,92 Meter Körpergröße hat der 52-Jährige vor vier Jahren gewogen. Inzwischen habe er 40 Kilo abgenommen.

Damals hat sich seine Freundin von Gruber getrennt: "Ich glaube, das lag auch an meinem Gewicht", sagt er. Das Essen war aber schon vor der Trennung zum Verdrängungsmechanismus geworden: "Ich habe mich und mein Wesen nicht verstanden gefühlt, die Beziehung war unglücklich." Nach der Trennung habe er gemerkt, dass er etwas tun musste, um sich nicht weiterhin mit Essen zu betäuben. Seit dreieinhalb Jahren ist er in der Selbsthilfegruppe, die sich alle zwei Wochen trifft. 40 Kilo hat er seitdem abgenommen.

Am Anfang, sagt Gruber, sei es für ihn schwierig gewesen, in der Gruppe von sich zu erzählen. "Aber es gibt Regeln, die es mir leichter gemacht haben." Zu Beginn jeder Sitzung gibt es ein sogenanntes Blitzlicht: Jeder Teilnehmer sagt kurz, was ihn beschäftigt und wie es aktuell ums Essen bestellt ist. Dabei kristallisiert sich dann ein Thema oder eine Person heraus, die in der Sitzung zum Schwerpunkt wird.

In den Gruppen, in denen immer zehn bis zwölf Teilnehmer sind, geht es allerdings nicht ums Ab- oder Zunehmen: "Wir wollen niemanden disziplinieren, und wir arbeiten auch nicht mit Diäten", sagt Baeck. Die Mitglieder können alle Themen, die sie beschäftigen, mitbringen: Beziehungsprobleme, mangelndes Selbstbewusstsein, Stress im Job. Alles Dinge, die jeden treffen. So mancher, erklärt Baeck, habe allerdings auch mit Schwerwiegenderem zu kämpfen - mit Missbrauch etwa. Immer sei jedoch das Essen ein Ventil und ein Verdrängungsmechanismus.

Gruber bestätigt das: "Es scheint, als hätten alle in der Gruppe Schwierigkeiten damit, sich selbst zu reflektieren." Früher, als Kind, sei Essen zwar auch schon schwierig für ihn gewesen, aber er habe nicht unter Übergewicht gelitten. "Irgendwann habe ich dann keinen Sport mehr gemacht und zugelegt, bis die Waage platt war."

Indem im Gespräch in der Gruppe die verschiedenen Blickwinkel der Teilnehmer zum Vorschein kommen, gibt es immer etwas, das der Einzelne mitnehmen kann, sagt Baeck. Auch Gruber hat aus den Sitzungen viel Selbstvertrauen geschöpft: "Ich weiß jetzt, dass Anerkennung zunächst von mir selbst kommen muss." Er sei nicht mehr so abhängig von den Urteilen anderer. Die Gruppe verlassen möchte er aber noch nicht: "Solange da noch Neues für mich kommt und mich die Gespräche zum Nachdenken anregen, werde ich auch weiter hierherkommen."

*Name von der Redaktion geändert

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