Pilgern zu Karl Marx: Besuch beim linken Übervater

Trier ist eine Pilgerstätte für chinesische Touristen – denn hier steht das Geburtshaus von Karl Marx. Er bleibt die Ikone des Kommunismus und im chinesischen Leben präsent.

Mitglieder der Roten Garde in China demonstrieren während der Kulturrevolution August 1966 mit einem Marx-Plakat. Heute ist Karl Marx immer noch bei den Chinesen beliebt. Bild: ap

TRIER taz | Es geht alles ganz schnell und ganz leise. Plötzlich ist sie da: die 16-köpfige chinesische Reisegruppe im Trierer Geburtshaus von Karl Marx. Während deutsche Touristen einen Riesenlärm machen und sich umständlich vom Reiseleiter jede Kleinigkeit erklären lassen, sind die Chinesen hier pragmatisch. Kaum angekommen, strömen schon die Ersten mit ihren Audioguides in das Museum.

Im einen Moment noch weltgewandt, spürt man im zweiten den Muff der Diktatur. Mit einem Journalisten reden können oder wollen sie trotz Ankündigung nicht. Auch die des Englisch mächtigen Besucher vertiefen sich gekünstelt in ihre Audioguides oder überhören lächelnd die Frage nach ihrer Europareise. Eine Chinesin mittleren Alters in hellblauer Daunenjacke erbarmt sich schließlich zu einer Antwort: "Unser Führer hat gesagt, wir sollen nicht mit Ihnen reden", presst sie auf Englisch heraus und ist schon wieder weg, im nächsten Raum. "Was immer man aus Marx gemacht hat: Das Streben nach Freiheit, nach Befreiung der Menschen aus Knechtschaft und unwürdiger Abhängigkeit war Motiv seines Handelns", kommentiert Willy Brandt auf der Wand hinter ihr. Vielleicht hätte die Museumsleitung dieses Zitat auch auf Chinesisch anbringen lassen sollen.

"Der Besuch hier ist uns sehr wichtig, weil Karl Marx der Vater des Kommunismus ist", erklärt schließlich Li Xin, ausgerechnet jener Reiseleiter, der seinen Teilnehmern vorher angeblich verboten hat, mit Journalisten zu reden, und schaut durch seine etwas zu dicken Brillengläser. Mehr ist aus ihm auch nicht herauszubekommen. Er verabschiedet sich. Der Rest der Gruppe ist schon wieder vor dem Haus und macht Fotos. Die scheinen den chinesischen Touristen ohnehin am wichtigsten. In den 30 Minuten, in denen die Gruppe von Human-Ressources-Managern aus der chinesischen Provinz Jiangsu durch das pittoreske Patrizierhaus hetzt, bleibt kaum Zeit für Inhalte. Trier wird in drei Stunden abgehakt. Gleich geht es weiter nach Stuttgart. Von dort aus nach Frankfurt und Heidelberg. Der Geist ist willig, aber die Zeit ist knapp.

Trotz des eng gerafften Sightseeing-Marathons, das die chinesischen Touristen in Deutschland absolvieren, ist die Provinzstadt an der Mosel für nahezu alle Teil des Pflichtprogramms. Rund 12.000 chinesische Besucher hatte das Karl-Marx-Haus allein 2008. Dazu kommen tausende, die nur vor dem Haus ein Beweisfoto machen und dann weiterreisen. Aber wie kommt es, dass dieser Bartträger heute am anderen Ende der Welt immer noch so populär ist?

"Das Bild von Karl Marx ist in China niemals ins Negative umgeschlagen", erklärt André Hakmann, Geschäftsführer des Konfuzius-Instituts in Trier, "viele glauben sogar, dass er mehr mit China zu tun hat als mit Deutschland." Zusammen mit einem Sinologie-Professor der örtlichen Uni hat er eine Studie über die Besucher des Karl-Marx-Hauses gemacht, für die er mehrere 10.000 chinesische Gästebucheinträge seit 1975 analysiert hat. Auch eine nicht repräsentative Umfrage floss in seine Forschungsarbeit ein.

"Die Sprache in den Einträgen ist immer noch sehr kommunistisch. Oft stehen da Parolen wie ,Proletarier aller Länder vereinigt euch!' oder ,Wir sind Soldaten der Arbeiter-und-Bauern-Armee'. Viele verbinden auch heute noch große Emotionen mit Karl Marx. Der Tenor der Einträge sieht ihn als großes Glück für China. Er gilt als die Person, deren Ideen die Befreiung gebracht haben", sagt Hakmann.

Rund 54 Prozent der chinesischen Besucher - so das Ergebnis seiner Studie - messen Marx heute eine positive Rolle für China zu, 17 Prozent ist er gleichgültig und nur sechs Prozent assoziieren etwas Negatives mit dem linken Übervater.

Dementsprechend verwundert es nicht, dass auch viele hohe Parteikader zum Teil undercover nach Trier kommen. So war beispielsweise 2005 eine Delegation des Ministeriums für Disziplinaraufsicht samt Minister zu Besuch. "Es ist sogar noch nicht einmal ausgeschlossen, dass Hu Jintao, der chinesische Staatspräsident, oder der Premierminister Wen Jiabao mal irgendwann hier waren", sagt Sebastian Heilmann, Politikwissenschaftler und China-Experte an der Universität Trier.

Obwohl das Land heute wirtschaftlich liberaler denn je agiert, spielen die Symbolfiguren des China-Kommunismus doch nach wie vor eine große Rolle. Auch in China selbst boomt ein "roter Tourismus", der beispielsweise jährlich über drei Millionen Besucher allein in die kleine Provinzstadt Shaoshan führt, den Geburtsort von Mao Tse-tung. Die geistigen Gründungsväter des heutigen China werden kultisch verehrt. Entsprechend selten gehen die Besucher auch kritisch mit ihrem Erbe um. Chinesische Einträge wie "Alter Marx, du hast 1,3 Milliarden Menschen großen Schaden zugefügt" sind eine Seltenheit im Trierer Gästebuch.

Auch Zhang Chunmei - eine unauffällig schwarz gekleidete Frau mit mittellangen Haaren - teilt die Begeisterung ihrer Landsmänner und -frauen. Die 46-Jährige ist Vizedirektorin des Fachbereichs Philosophie am Shanghai Administration Institute, einer elitären Kaderschmiede in der bedeutendsten Industriestadt Chinas. Sie genießt das Privileg einer Privatführung durch die Geburtsstätte des deutschen Philosophen. Interessiert lauscht sie Beatrix Bouvier, der Leiterin des Hauses, lächelt häufig und stellt Fragen. Eine Tafel mit den Namen von Intellektuellen, die von Marx beeinflusst wurden, interessiert sie besonders. Auch, was die Deutschen über Marx denken, will sie wissen. Bouvier klärt über sein hier vielerorts schlechtes Image auf. Zhang schaut ungläubig.

Im letzten Raum des Rundgangs werden die globalen Auswirkungen der Marxschen Theorie behandelt. Eine Tafel ist China gewidmet. Hier werden auch die Ereignisse von 1989 am Platz des Himmlischen Friedens erwähnt. Die Demokratiebewegung wurde damals von der eigenen Regierung brutal niedergeschlagen. Ein Tabuthema in der Heimat von Zhang. Darauf angesprochen, lächelt sie nur verlegen und schweigt. "Bitte keine peinlichen Fragen", flüstert Bouvier auf Deutsch. Okay, so geht man nicht mit Gästen um.

"Marx ist für uns eine Idee, wie man die Welt sehen kann. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, um diese Vorstellungen umzusetzen. Er ist ein großer Philosoph, an dem ich auch als Wissenschaftlerin interessiert bin", erläutert Zhang später ihren Standpunkt. "Mit Mao haben wir Marx Ideen an die chinesische Tradition und Geschichte angepasst. Konfuzius ist auch sehr wichtig. Eine harmonische Gesellschaft ist unser Ziel. Marx kann uns beibringen, Missstände zu kritisieren. Das ist der einzige Weg, Lösungen für unsere Probleme zu finden", schiebt sie hinterher. Als Zhang dies sagt, weiß man nicht, ob man ihrem Lächeln glauben soll.

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