Verballhorntes Brauchtum: In Hannover immer noch Advent

Niedersachsens Landeshauptstadt holt auf im Ranking der größten Event-Weihnachtsmärkte. In der letzten Saufbude fließt der Glühwein bis Januar.

Das Fanal der Weihnachtsmärkte: die Riesen-Erzgebirgspyramide in Hannover. Bild: dpa

Ortsfremden, die in Hannover aus dem Bahnhof schlittern, drängen sich drei Fragen auf. Bin ich immer noch nicht nüchtern? Ist denn schon wieder Weihnachten? Ticken die hier noch richtig? In Wurfweite dräut ein hölzernes Trumm, das Tannengrün, Sternchen und lebensgroße Nussknacker zieren. Unterm Dach wird die Zeit mit Glühwein gestreckt, als wäre das Christkind Kunde der Deutschen Bahn und hätte eine Woche Verspätung. Dabei sieht der Fremde nur die Restbestände jenes Weihnachtswahns, der sich Jahr für Jahr immer länger und in immer horribleren Erscheinungsformen durch die Landeshauptstadt wälzt.

Am längsten darf es "Kult-Wirt" (Bild Hannover) Rainer Aulich treiben, der das urbane Flair sonsten mit eigenhändig zusammengerührtem Bier, FDP-Wahlpartys und einem Drive-In-Beach-Club bereichert. Er darf auch am höchsten. Seine 18 Meter hohe Weihnachtspyramide (Weltrekord!) steht bis morgen all jenen im Weg, die in der City etwas zu erledigen haben oder den Kröpke-Platz auf dem Weg zur Arbeit queren müssen.

Aus Sicht der Stadt ist Aulichs Holz-Tränke gewissermaßen ein Zweckbau, das heißt Teil eines ausgeklügelten Raumordnungskonzeptes, mit dem die Eventstrategen im Rathaus die City zu rastern pflegen. Der hässliche Hochsitz fungiert, laut Stadt-Herold Dennis Dix, "als Bindeglied zwischen den Weihnachtsmärkten am Hauptbahnhof und in der Altstadt".

Dazu hätte es nur ein funktionierendes Riechorgan gebraucht. Das Aroma aus Jager-Tee, totem Fleisch, Fettgebackenem, Harnsäure und Erbrochenem bildet eine quadratkilometergroße Dunstglocke, die Hannovers Mitte in eine olfaktorische Zumutung verwandelt - Resultat eines sich krakenartig ausbreitenden Budenzaubers.

Die Keimzelle des Übels liegt an der ehrwürdigen Marktkirche, wo vor 150 Jahren erstmals ein Christmarkt aufgebaut wurde. Aus den gemütlichen Anfängen ist ein Spektakel geworden. Nach Angaben des Marktamtes sind 2009 allein um die 170 Stände in der Altstadt 1,7 Millionen Besucher gewankt, was Hannover unter die Top-Ten im deutschen Weihnachtsmarktranking katapultiert. Schirmherrin ist das frisch gekürte Sektenoberhaupt der Evangelisch-Lutherischen, Margot Käßmann, die ansonsten gern wider den Konsumismus predigt.

Erst warfen heidnische Asiaten ihre Wok-Pfannen an, dann kamen die Finnen. Leider treten sie nicht auf wie Kaurismäkis still in sich hinein trinkende Film-Melancholiker. Stattdessen tragen sie lächerliche Fellkappen, lärmen herum und bewerfen jeden mit Rentierknochen, der sich weigert Räucherlachs, gegrillte Elche oder ein blind machendes Glühweingebräu namens Glögi zu verkosten.

Voriges Jahr wuchs eine mittelalterliche "Handwerkergasse", wo sorgfältig ungewaschene Zeitgenossen auf Ambosse eindreschen. Die neuste Attraktion ist ein als "Wunschbrunnenwald" getarnter Punschausschank, für den im Harz 50 prächtige Fichten umgehauen und ausgerechnet vor das Leibnizhaus gestellt wurden. Wie um den großen Philosophen zu verhöhnen, der noch fest daran glaubte, der homo sapiens besäße "die "Fähigkeit zur vernünftigen Lebensführung".

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