Hilfe für Krebspatienten: Weg mit der Perücke

Puder, Rouge und Lippenstift. Ein Kosmetikseminar für Krebspatienten gibt den Erkankten die Chance, ihr Leid zu vergessen. Zumindest für ein paar Stunden.

Farbenfroh sind bei Krebsbehandlungen meist nur noch die Pillen. Bild: dpa

Zehn Frauen sitzen um einen runden Tisch und werfen noch einmal ein prüfenden Blick in die kleinen Spiegel vor ihnen. Beäugen die rosige Wangen, den frischen Teint und die roten Lippen. 20 erstaunte und doch faszinierte Augen. Dreht man die Uhr zwei Stunden zurück, war die Stimmung angespannt, eher gedrückt. Denn zu diesem Zeitpunkt drängten sich noch zehn verunsicherte und erschöpfte Frauen um den Tisch. In ihren Blicken Skepsis und Sorge. Zehn völlig unterschiedliche Personen, die eins gemeinsam haben - sie sind an Krebs erkrankt.

Sie alle wollen an diesem Nachmittag im Helios Klinikum in Berlin-Buch für einige Stunden ihre Krankheit vergessen. Und zwar mit Hilfe von Pinseln und Wattepads, mit Make-up, Puder und Lippenstift. Die Damen nehmen an einem Kosmetikseminar für Krebspatienten teil. "Sie sollen sehen, dass man trotz der Erkrankung auch nett aussehen kann", erklärt Dagmar Peinzger. Sie leitet das Projekt "Patienten Informiert und Aktiv" (PIA) - ein Programm für krebskranke Menschen. Seit zehn Jahren läuft das Projekt bereits, das verschiedene Workshops, Rechtsseminare und Vorträge für Krebspatienten anbietet.

Vor sechs Jahren hat das Krankenhaus das Kosmetikseminar der DKMS Life - eine gemeinnützige Organisation der Deutschen Knochenmarkspenderdatei - in PIA eingebettet. Das Angebot richtet sich an krebskranke Frauen im Helios Klinikum. "Aber auch Männer dürfen daran teilnehmen. Doch die haben sich noch nicht in das Seminar getraut", verrät Peinzger. "Sie akzeptieren die äußerlichen Veränderungen mehr als Frauen."

Generell würden Männer anders mit der Krankheit umgehen. Statt sich mit dem Krebs auseinander zu setzen, versuchen sie ihn zu verdrängen. "Bloß nicht darüber reden. Standhaft bleiben", erläutert Peinzger. Dagegen würden gerade junge Frauen die Erkrankung zulassen. "Sie sehen oft eine Botschaft darin, werten ihr Leben neu und ändern ihre Lebensgestaltung", so die Projektleiterin. "Ältere Frauen tun sich mit Veränderungen eher schwer."

DKMS Life ist eine gemeinnützige Schwesterngesellschaft der Deutschen Knochenmarkspenderdatei. Die Stiftung hilft krebskranken Frauen mit den Folgen ihrer Krankheit und der Therapie besser umzugehen. Allein in Deutschland erkranken jährlich etwa 200.000 Frauen an Krebs.

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Mit dem Programm "Freude am Leben" bietet DKMS Live kostenlose Kosmetikseminare in Krankenhäusern, Krebsberatungsstellen oder in sozialen und medizinischen Einrichtungen an.

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Mehr als 70.000 Patientinnen haben in den letzten Jahren bereits einen Workshop besucht. Kosmetikexperten geben den Patientinnen in rund 90 Minuten Tipps zum Schminken für ein neues Wohlbefinden. Außerdem erhalten die Frauen eine Tasche mit verschiedenen Kosmetikprodukten für alle Schritte des Programms. Ziel der DKMS Live ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Denn ein starkes Selbstwertgefühl fördert auch den Heilungsprozess.

Dennoch sitzen im Seminar auch ältere Patientinnen. Skeptisch blicken sie auf die Kosmetikerin Jana Chartron. Und auf die gelben Taschen auf dem Tisch. Doch die Skepsis wandelt sich schnell in Begeisterung um, als sie die Stofftüten auspacken. Kosmetika im Wert von etwa 150 Euro liegen vor den Damen. Und die dürfen sie nach dem Kurs mitnehmen. Aber vorher sollen sie lernen, die Produkte anzuwenden.

"Wenn Sie wollen, dürfen sie ihre Tücher und Perücken abnehmen", ruft sie in die Runde. Schon landen einige Kopfbedeckungen auf dem Tisch. Die Chemotherapie zeigt ihre Folgen: Glatzen und stoppelige Köpfe kommen zum Vorschein. "Die Perücke hat mich eh gejuckt", sagt eine Frau erleichtert und streicht sich über den kahlen Kopf. Und auch da kann die Kosmetikerin Abhilfe schaffen. "Tücher und Kappen lassen sich einfach kombinieren", rät sie. "Trauen Sie sich ruhig, in Ihren alten Sachen zu kramen." Mit alten Schulterpolstern etwa kann man mehr Fülle unter ein Kopftuch mogeln oder zwei Tücher zu Zöpfe flechten. Die Teilnehmerinnen sind begeistert.

Dennoch ist die Runde eher still. Konzentriert cremen sich die Frauen ein, genießen die wohltuende Gesichtsmassage. Und die Sonne, die an diesem kühlen Tag durchs Fenster scheint. Gelöster wird die Stimmung beim Make-up. Die Patientinnen greifen zu Puder, Abdeckstift, Rouge, Wimperntusche und Lippenstift. Während sie eifrig hantieren, schaut ihnen eine elfte Dame mit lila Kopftuch zu. "Ich möchte die Produkte lieber zu Hause ausprobieren", gesteht sie und klammert sich dabei an ihrer Tasche fest.

Munter tragen die Teilnehmerinnen Farben auf und beäugen sich im Spiegel. Augenringe verschwinden. Brauen und Wimpern werden wieder sichtbar, der Teint frischer. Chartron überprüft stets die Ergebnisse, gibt Tipps und legt auch mal selbst Hand an, um zu korrigieren. Aber nicht oft. "Die Frauen sollen lernen, sich selbst zu schminken, sonst machen sie es zu Hause nicht mehr", erklärt die 36-Jährige.

Ein Ausnahme macht sie bei einer Patientin im weißen Bademantel. Neben ihr steht ein Chemoständer. Grüne Lichter blinken an zwei Apparaten. Eine rötliche Flüssigkeit läuft durch dünne Schläuche. In der rechten Hand steckt eine Kanüle. Das Schminken strengt sie an. Chartron muss ihr in den zwei Stunden daher immer wieder helfen. Dennoch hat die Patientin Spaß.

Und das freut Chartron. "Es ist schön, wie die Patientinnen während des Seminars aus sich heraus kommen und aufblühen", meint die Kosmetikerin. "Ich versuche die düsteren Gedanken zu vertreiben und gute Stimmung zu verbreiten." Bereits seit zwei Jahren leitet sie die Kurse. Eine an Krebs erkrankte Freundin hatte ihr von dem Programm erzählt. Chartron war sofort begeistert. "Sich im eigenen Job ehrenamtlich zu engagieren, das ist toll", sagt sie. "Einfach Freude geben und helfen." Aber dabei möglichst wenig über die Krankheit sprechen.

Doch gerade das wollen einige der Patientinnen: reden und verarbeiten. Wie Barbara Säwert. Die 67-Jährige hat ihre Erkrankung erst mit der Chemotherapie realisiert. Die erste Bestrahlung liegt noch nicht lange zurück. Ihre Haare sind noch nicht ausgefallen. Aber sie hat starke Schmerzen. Während des Schminkkurses muss sie immer wieder aufstehen. Sie kann nicht lange sitzen. Der Kreislauf macht ihr Probleme und ihr ist übel.

"Mitte Dezember haben die Ärzte ein Nierenkarzinom festgestellt", erzählt die Berlinerin recht nüchtern. "Mittlerweile haben sich Metastasen in Lunge und Leber gebildet." Ihre Augen strahlen eine gewisse Ruhe aus. Und Hoffnung. "Ich bin Optimistin", sagt Säwert. Sie glaubt fest daran, den Krebs besiegen zu können. Ihr Wunsch ist es, wieder Zeit mit ihrem Mann zu verbringen. Denn der lebt derzeit im Pflegeheim, ist an einen Rollstuhl gefesselt.

Kraft tankt Säwert bei Familie und Freunden. "Aber heute wollte ich mir selbst was Gutes tun", erzählt sie. "Und meine Sorgen und Ängste wegschminken." Mit Erfolg. Nach dem Kurs lächelt sie zufrieden. "Durch den Krebs sieht man ganz elend aus", meint die 67-Jährige. Aber nun würden die Gesichter frischer und vollkommener wirken. "Toll, dass man mit so wenigen Mitteln so viel erreichen kann", freut sich Säwert. Die anderen Patientinnen stimmen zu. Auch sie fühlen sich wohler. Warum? Weil sie nicht mehr krank aussehen. Weil das Gesicht ganz natürlich erscheint.

Zehn Frauen sitzen um den runden Tisch und betrachten sich glücklich in den kleinen Spiegeln. Bewundern die dezente Maskerade. In ihren Blicken Erstaunen und Zufriedenheit. Zehn völlig unterschiedliche Frauen, die eins gemeinsam haben - sie haben für einige Stunden ihre Krankheit vergessen.

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